Die Sehnsucht der Falter
dich jetzt?«
Ich sagte nichts.
»Erwachsen?«
»Daddy hat mich nur als Kind gekannt«, sagte ich. »Er würde mich nicht erkennen.«
»Red nicht so«, meinte meine Mutter.
»Bist du etwa die Einzige, die so reden darf?«
Sie ging in ihr Atelier, schloss die Tür und sprach den Rest des Tages nicht mehr mit mir. Ich weiß nicht, warum ich sie verletzen musste. Ich habe mich immer so bemüht, nicht über Daddy zu sprechen.
Im Grunde macht es mir nichts aus, dass ich Brüste und Schamhaar und meine Periode habe. Es heißt nicht, dass ich eine Frau bin. Es heißt nur, dass ich wie die anderen Mädchen bin. Ich verstehe Sofia. Wenn ich meine Periode habe, blute ich manchmal so sehr, dass es mir vorkommt, als strömte gar nicht mehr genügend Blut durch meinen Körper. Es ist brutal. Mein Körper wehrt sich noch dagegen.
17. November
Sie hat sich in dieses Tagebuch gestohlen, wie sie sich in Lucys Leben gestohlen hat. Ich kann es nicht verhindern. Es soll darin nicht um sie gehen. Es soll um die Schule, meine Freundinnen, Lehrerinnen, Bücher gehen.
Sie hat auf mich gewartet. Als ich heute Morgen durch die Tür im Erdgeschoss der Residenz kam, hörte ich jemanden Klavier spielen. Ich schaute in den langen Flur, die Türen der Proberäume waren geschlossen. Die Musik drang aus dem Zimmer, in dem ich immer übe. Dort steht das beste Klavier, ich bin daran gewöhnt. Es gehört mir. Dann merkte ich, dass diese Person die Mozartsonate spielte, an der ich im letzten Jahr gearbeitet hatte. Wie sehr hatte ich mit dem Allegro gekämpft. Ich war nur ein paar Mal mit meinem Spiel zufrieden gewesen, dabei hatte ich sie fast ein Jahr lang geübt. Es lag auch am Klavier. Zu Hause spiele ich immer besser. Aber diesmal machte das Klavier keine Schwierigkeiten. Sie spielte das Allegro so präzise, dass es wie ein Militärmarsch klang. Sie zögerte nicht, jede Note klang perfekt. Ich wartete, bis der erste Satz zu Ende war.
Als ich die Tür aufstieß, nahm sie mich kaum zur Kenntnis. Ich sah keine Noten. Ich dachte, ich müsste heulen. Es war ein ungeheurer Witz auf meine Kosten.
»Ich wusste nicht, dass du Klavier spielst«, sagte ich. Ich zwang mich, nicht davonzulaufen, sondern zu tun, als wäre das alles ganz normal.
»Ich spiele kaum noch.«
»Aber du spielst unheimlich gut.«
»Mein Vater war Musiker«, sagte sie. »Ich habe alles von ihm geerbt. Genau wie du von deinem Vater.«
»Ich habe nichts von meinem Vater geerbt«, sagte ich.
Mir kam es vor, als wollte Ernessa nicht, dass ich ging. Sie wollte weiter mit mir reden. Über unsere Väter. Sie wollte, dass ich blieb. Ich machte die Tür zu und rannte weg. Sobald ich den Raum verlassen hatte, begann sie, das Adagio zu spielen. Ich wollte nicht hören, wie sie es spielte. Die Musik folgte mir durch den Flur. Sie spielt mühelos, klar, genau wie Miss Simpson es immer von mir verlangt. Das Allegro hat mir zu viel Wucht. Einmal angefangen, trägt es mich atemlos bis zum Schluss. Ich verstehe es nicht, nur die Bewegung. Ich weiß nicht, wohin es führt. Das Adagio ist anders. Ich lege die Hände auf die Tasten, und die Musik steigt aus ihnen auf und leitet meine Finger. Es winkt mich an einen unbekannten Ort. Ich gehe durch den Wald und sehe in der Ferne eine offene Wiese, auf der das Sonnenlicht ins hohe Gras strömt. Ich gehe darauf zu, halte inne, schaue mich um, gehe weiter, beginne zu hüpfen. Das Licht zieht mich an.
So kann das klapprige alte Klavier einfach nicht klingen. Vielleicht habe ich die Sonate im Gehen im Kopf weitergespielt. So könnte ich Mozart niemals spielen, selbst wenn ich bis zum Umfallen üben würde.
Warum will sie mir alles wegnehmen?
18. November
Was ist an Menschen wirklich echt? Gibt es einen Kern von »Echtheit«, der immer bleibt? Jemand wie Claire ist total unecht. Sie gibt sich liberal und raucht dauernd Pot, aber sie wird mal wie ihre Mutter – mit Mann, Kindern, zwei Autos, einem netten Haus im Vorort, Fernseher, Hi-Fi-Anlage und so weiter und so fort. Sie kann gar nicht anders. Sie ist die Art Frau, die über ihre Schulmädchenfotos lacht, weil sie den Menschen, der sie anschaut, nicht mehr erkennt. (Ein Bild vom falschen Augenblick?) Doch man kann auch auf eine Weise unecht sein, die tiefer geht als Äußerlichkeiten, die sich jederzeit ändern können. Wie bei einer Zwiebel pellt man Schale um Schale ab, bis nichts mehr übrig ist. Vielleicht ist man nicht einmal selber schuld daran.
Als Annie Patterson zu essen aufhörte,
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