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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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wurde sie ein völlig anderer Mensch. Von ihrem alten Selbst war gerade so viel übrig, dass man erkennen konnte, wie sehr sie sich verändert hatte. Es war nicht nur ihr Aussehen. Sie veränderte sich im Ganzen. Sie wurde ängstlich. Sie ging gebückt. Sie sah kleiner aus, wie ein verletzter Vogel. Es gibt nichts Erbärmlicheres als einen Vogel, der am Boden liegt und, vergeblich mit den Flügeln flatternd, in die Luft steigen möchte. Als sie die Schule verließ, konnte sie kaum noch die Arme heben. Sie sprach im Flüsterton. Vorher hatte sie immer so rund und glücklich gewirkt, doch in ihr drin steckte ein unglaublich trauriger Mensch. Welche Annie war nun echt? Selbst wenn ich traurig bin, habe ich nie das Gefühl, die Traurigkeit hätte alles an sich gerissen. Ein winziger Teil von mir bleibt immer unberührt, zu ihm kann ich zurückkehren.
    Mein Vater las mir gerne Märchen von Menschen vor, die sich in Bäume, Löwen, Vögel oder Raupen verwandeln, von Menschen, die von den Toten zurückkehren. Verzauberte Menschen wurden niemals älter, daher konnte der Prinz unbekümmert weiterleben, sofern es ihm gefiel, ein Baum zu sein. Als ich klein war, wollte ich diese Geschichten nicht hören, obwohl sich der Prinz immer wieder zurückverwandelte, seine Prinzessin fand, König wurde und glücklich lebte auf immerdar. Ich schrie meinen Vater an, er solle mit dem Lesen aufhören, und zog mir die Decke über den Kopf. Er lachte mich immer aus und las weiter.
20. November
    Ich habe mich wirklich bemüht, nicht über Ernessa zu reden und sie links liegen zu lassen, aber ich kann ihr nicht entkommen.
    Nachdem ich heute Morgen Klavier geübt hatte, ging ich hintenherum zum Mittagessen und kam an Miss Roods Wohnung vorbei. Ich bemerkte Ernessa erst, als sie neben mir stand. Sie hätte ganz sicher im Unterricht sein müssen. Sie kommt immer zu spät, was anscheinend nur mir auffällt. Ich verstehe nicht, wie sie Tag für Tag damit durchkommt. Sie findet immer eine Entschuldigung.
    Pater rannte gegen die Glastür der Wohnung, warf sich dagegen und bellte wie verrückt. Das macht er manchmal, wenn ich vorbeigehe, doch heute drehte er völlig durch. Wir schauten beide durch die Glastür mit den langen Samtvorhängen, die von dicken Kordeln gehalten werden, blickten in die dämmrige Diele mit den schweren, dunklen Möbeln und dem karminrot gemusterten Teppich. Dann sahen wir uns an und mussten lachen. Wir konnten nicht anders.
    »Der Hund spinnt«, sagte ich, überrascht, dass ich mit Ernessa lachte. »Er springt gleich durch die Scheibe.«
    »Ich hasse dieses Hecheln«, meinte sie. »Das Geräusch macht mich irre. Ich kann es einfach nicht ertragen.« Sie redete nicht wirklich mit mir.
    Hinter uns hing eine Lampe, und unsere Gesichter spiegelten sich im Glas, schwebten über dem hechelnden Hund, dessen braunes Fell mich an Miss Roods Haare erinnert. Zum ersten Mal, und mit einem gewissen Schock, wurde mir klar, wie ähnlich wir uns sehen. Das ist wohl nicht weiter überraschend. Wir sind beide osteuropäische Jüdinnen, die einzigen echten Jüdinnen in der Klasse. (Dora zählt nicht.) Wir haben schwarze Locken, große Nasen, ganz dunkle Augen. Ich habe nie darüber nachgedacht, ob ich hübsch bin oder nicht, da sich die Jungen beim Tanztee sowieso nicht für mich interessieren. Sie finden Lucy hübsch. Aber Ernessas Gesicht ist unvergesslich. Neben ihr sehen die anderen Mädchen verwaschen aus. Sogar Lucy.
    Jetzt verstehe ich auch, warum Betsy geglaubt hatte, Ernessa und ich würden uns bestimmt gut verstehen. Das hatte sie in der ersten Woche nach den Ferien gesagt. Wir seien derselbe Typ. Ich dachte, sie hätte es gesagt, weil Ernessa intelligent ist. Aber sie meinte jüdisch, als gehörte man zum selben Typ von Außerirdischen. Solche Sprüche bringen die Tagesschülerinnen, deshalb will ich auch nichts mit ihnen zu tun haben. Die Tagesschülerinnen sind wirklich viel schlimmer als die Mädchen im Internat. Sie reißen gerne Judenwitze. Warum haben Juden so große Nasen? Luft kostet nichts. Warum sind die Juden vierzig Jahre durch die Wüste gezogen? Jemand hatte einen Vierteldollar verloren. Dann tun sie verlegen, wenn ich sie anstarre. Ich habe keine Angst, sie anzustarren. Sie sind zu blöd, um zu wissen, was sie da sagen; sie plappern das bloß ihren Eltern nach. Sie stoßen sich an und kichern. Machen einen auf süß. Ich hasse dieses Wort. Süß. Es ist so abgegriffen. Irgendwann werden sie wütend, weil ich sie immer

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