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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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auch besonders gern. Proust. Es ist lange her, dass ich es gelesen habe. Auf Französisch. Aber ich habe es nie vergessen. Ich beneide dich, weil du gerade erst damit anfängst. Anfangen ist viel besser als sich erinnern.«
    Wie lange kann es her sein, dass sie es gelesen hat? Sie ist erst sechzehn, höchstens siebzehn. Ich hasse solche Gemeinsamkeiten. Und natürlich hat sie es auf Französisch gelesen. Dann fuhr meine Mutter vor. Ich schnappte meine Tasche und rannte hinaus.
    Ernessa kam hinter mir her. Sie trug einen schwarzen Mantel mit Samtkragen und ein Barett. Ich glaube, so etwas Elegantes könnte ich niemals tragen. Ich käme mir zu unbeholfen darin vor. Irgendwie gelingt es Ernessa, gleichzeitig wie eine schicke Frau und ein kleines Mädchen auszusehen. Der Mantel war wunderschön. So einen hätte ich auch gern. Stattdessen trage ich die alte Skijacke meiner Mutter. Sie sagt, wir hätten jetzt kein Geld für neue Kleider, weil sie seit einer Ewigkeit keine Ausstellung gehabt habe.
    Beim Wegfahren drehte ich mich um und sah, wie Ernessa mit einem Mann, einem gut aussehenden, dunkelhaarigen Mann, in ein grünes Auto stieg. Er war ungefähr so alt wie meine Mutter. Ihr Vater ist tot, wer also ist dieser Mann?
    Einmal ging ich auf dem Flur ans Telefon, und ein Mann mit starkem Akzent fragte nach Ernessa Bloch. Ich klopfte an ihre Tür und rief sie. Sie rannte mich beinahe um, als sie zum Telefon eilte. Auf dem Weg zu Sofias Zimmer kam ich nochmal an ihr vorbei, sie sprach sehr aufgeregt in einer mir unbekannten Sprache. Manche Wörter klangen ein bisschen wie Französisch, aber ich konnte überhaupt nichts verstehen.
    Ein anderes Mal hörte ich sie auf Englisch telefonieren. Ich kriegte nur noch das Ende mit, bevor sie einhängte. Sie sagte gerade: »Ich glaube, das wäre ganz angenehm … Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.« Sie hörte sich an wie eine Figur aus einem Buch.
27. November
Spätabends
    Ich kenne den Geruch, der wie schmutziges Wasser unter ihrer Tür durch in den Flur sickert. So roch Milou, als er im Sterben lag, ein verdorbener Geruch, der sich mit dem allzu süßen Duft der Hyazinthen mischte, die meine Mutter in der Küche zog. Die beiden Gerüche waren für mich untrennbar verbunden.
    Meine Mutter sagte, sein Körper verwese bereits, obwohl er noch nicht gestorben sei. Seine Augen tränten, die Lider waren verklebt. Getrocknetes Blut und brauner Schleim tropften ihm aus dem Maul und hafteten an den Schnurrhaaren. Meine Mutter wischte ihm mit einem feuchten Tuch das Gesicht ab und hielt ihn wie ein Baby im Arm. Sie küsste sein fauliges Gesicht und flüsterte ihm weinend etwas ins Ohr. Ich musste würgen, wann immer ich in seine Nähe kam.
    Schließlich starb Milou in den Armen meiner Mutter. Wir wickelten ihn in ein weißes Laken und begruben ihn an einem warmen Wintertag im weichen Boden. Er lag unter der Erde, doch sein Geruch hatte das Zimmer durchdrungen. Wenn ich in die Küche kam, schaute ich in die Ecke, in der er gestorben war, und erwartete, ihn dort zu sehen. Die Hyazinthen waren verwelkt. Ihr Duft war verweht, doch sein Geruch war noch da, schwebte wie ein Geist über der Stelle. Er war nicht richtig tot, solange sein Geruch dort blieb.
28. November
    Nachts wache ich mit einem Ruck auf und kann nicht mehr einschlafen. Ich liege ganz still, während mich die Leere aufsaugt. Meine Mutter schläft und schläft. Ich traue mich nicht, sie zu stören. Sie schläft Tag und Nacht. Je weniger ich schlafe, desto mehr schläft sie. Sie stiehlt mir den Schlaf.
    Ich kam nach Brangwyn, nachdem mein Vater gestorben war.
    In der ersten Nacht in der Schule gingen meine Augen mitten in der Nacht auf. Ich lag in einem schmalen, weißen Metallbett, in einem Käfig. Meine Mutter schlief nicht im Zimmer nebenan. Wenn ich mein Ohr an die Wand drückte, konnte ich den regelmäßigen Atem einer Fremden hören. Ich war vollkommen einsam. Doch als ich den Kopf vom Kissen hob, sah ich einen schmalen, gelben Lichtstreifen unter der Tür. Der gesprenkelte schwarze Linoleumboden im langen Flur war eiskalt. An einem Ende lag das Bad mit den hohen, weißen Waschtischen. Das war erlaubt. Am anderen Ende wachte Mrs. McCallum. Ihr runzliger Kopf mit dem Hundegesicht schoss aus der Tür, sobald ich nur mit den Laken raschelte. Wie ein Unhold versperrte sie mir den Fluchtweg die Treppe hinunter. Ich kannte die Parole nicht. Sie würde mich nie vorbeilassen.
    In meinem Zimmer hinter verschlossener Tür war ich

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