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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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reichte nicht ganz über die Zähne, die viel größer waren, als ich sie in Erinnerung hatte. Es waren Raucherzähne, krumm und gelb.
    Ich begann unüberlegt zu reden, um das Schweigen zu füllen.
    »Seht euch Ernessa an. Wenn ich mir vorstelle, dass ich sie mal schön gefunden habe. Sie sieht aus wie ein Tier. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr.«
    »Vielleicht wachsen ihr Haare auf den Handflächen«, sagte Charley. »Ich sehe mal nach.«
    »Klappe«, sagte ich. Charley traue ich alles zu. Dann würde Lucy nie wieder mit mir reden. »Kommt euch ihr Interesse an Lucy nicht auch irgendwie … unnormal vor?«
    »Das kann ich rausfinden«, meinte Charley. »Vielleicht ist sie eine Lesbe. Wäre nicht die Erste in der Schule. Schaut euch doch nur die Sportlehrerinnen mit den Schottenröcken und den kurzen Haaren an. Könnt ihr euch vorstellen, wie Miss Bobbie mit –«
    »Ich glaube nicht, dass Lucy auf so etwas steht«, sagte Dora. »Sie ist doch Papas Liebling. Sie mag Jungs.«
    »Nicht Lucy, du Trottel, Ernessa«, sagte ich. »Sie läuft Lucy nach wie ein Junge. Zu ihr ist sie so nett und zu allen anderen so fies.«
    Dora nutzte die Gelegenheit, die Professorin zu spielen. »Zugegeben, sie ist außerordentlich fasziniert von Lucy, die, das wissen wir ja alle, ganz reizend und hübsch sein mag, aber nicht gerade überwältigend wirkt. Seien wir ehrlich. Lucy ist … ein Hohlkopf, und wenn ihr es genau betrachtet, hübsch, aber ohne Überraschungen. Glattes, blondes Haar, das sie wegen Daddy nicht abschneidet. Ich bitte euch. Ich dachte, Ernessa wäre mehr an philosophischen Diskussionen interessiert, doch damit wird sie bei Lucy nicht weit kommen. Sie fühlt sich wohl von ihr angezogen, weil sie reizend und hübsch ist. Lucy ist für sie, was Kant das ›Erhabene‹ nennt. Das kennen wir alle.« Sie sah mich an.
    Und da wusste ich, dass sie hinter meinem Rücken über mich gesprochen hatten. Sie konnten es unmöglich verstehen.
    »Ich habe meinen Vater vergöttert«, sagte ich.
    Ich weiß nicht, wie diese Worte herauskamen. Ich hatte es nie zuvor jemandem eingestanden, und nun wussten es alle.
    Ich rannte aus dem Café, ohne meine Jacke anzuziehen. Ich wollte nicht, dass mich jemand weinen sah. Vor allem nicht Lucy und Ernessa. Die anderen glaubten, ich wäre durcheinander wegen meines Vaters. Doch an ihn dachte ich gar nicht. Ich war wütend auf Dora, weil sie Lucy beleidigt hatte.
24. November
    Ich weiß, die anderen mögen es nicht, wenn ich auf Lucy zu sprechen komme, aber ich kann nicht anders. Ihnen ist es egal, dass die Namen Ernessa und Lucy praktisch ein Wort geworden sind, obwohl sie nicht zusammengehören. Sie finden es höchstens lästig, dass ich diese Namen immer auseinander reißen will.
    Ich fühle mich besser, wenn ich nur ihren Namen ausspreche. Dann ist sie mir näher. Ich besitze sie, wenn auch nur für wenige Sekunden, in denen die Laute auf meiner Zunge liegen. Ich merke, dass ich allen auf die Nerven gehe, aber ich rede weiter. Sie schauen weg und hören nicht mehr zu. Plötzlich interessieren sie sich ganz wahnsinnig für die Schüssel Haferflocken, die vor ihnen auf dem Tisch steht. Sie holen sich noch Kaffee. Wenn sie sich abwenden, verliere ich Lucy. Natürlich kommt sie nicht mehr zum Frühstück. Jemand anders trägt sie ein. Mich bittet sie nie darum.
    Ich weiß genau, wie gewöhnlich sie im Grunde ist. Doch wenn ich könnte, würde ich endlos mit ihr reden.
25. November
    Ich bin zu Hause. Meine Mutter hat mich für die Thanksgiving-Ferien abgeholt. Nun, wo die Türen zum Bad immer zu sind und wir kaum noch miteinander sprechen, konnte ich die Schule nicht mehr ertragen. Wir gehen uns aus dem Weg.
    Ich saß unten in der Fensternische und schaute mir jedes Auto an, das vorüberfuhr. Meine Mutter kam natürlich zu spät, während Lucy als Erste abgeholt wurde. Immerhin verabschiedete sie sich von mir. Ich hatte Angst, sie würde ohne ein Wort wegfahren, dann hätte ich die ganzen Ferien daran denken müssen. Bald waren alle weg, ich blieb allein zurück. Ich hatte ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß. Ich las wieder und wieder dieselben Worte, obwohl sie keinen Sinn mehr ergaben: »Er erlitt diese Qual durch die Liebe, der sie in gewissem Sinne vorherbestimmt ist, durch die sie geformt und angepasst werden muss.«
    Ernessa las die Worte über meine Schulter. Ich spürte, dass sie da war, drehte mich aber nicht um. Ich erkannte ihr Atmen, noch bevor sie etwas sagte.
    »Dieses Buch habe ich

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