Die Sehnsucht der Falter
rollt den Bund ihres grauen Rocks, den sie praktisch das ganze Jahr überträgt, hoch und zieht dazu schwarze Strümpfe und einen schwarzen Pulli an. Sie tauscht ihre Straßenschuhe gegen schwarze Stiefeletten. Sie trägt goldene Ohrringe und legt ein bisschen rosa Lippenstift auf. Wenn sie von der Toilette kommt, sieht sie aus, als gehörte sie dorthin. Die Uniform ist nicht mehr zu sehen. Wenn uns jemand aus der Schule entdeckte, bekäme Dora Schwierigkeiten, weil sie ohne Uniform draußen ist und Make-up und Ohrringe trägt. Im Grunde wäre es aber egal, weil wir ohnehin alle Probleme bekämen, weil wir außerhalb der Schule geraucht haben. Im Aufenthaltsraum ist es erlaubt, aber auch nur da. Was für eine Heuchelei. Man kann die Internatsschülerinnen nicht vom Rauchen abhalten, falls die Eltern es erlaubt haben, doch sollen wir wenigstens, wenn wir das Schulgelände verlassen, wie junge Damen aussehen. Wie anständige junge Damen, die nur Sex, Drogen und Zigaretten im Kopf haben.
Aus irgendeinem Grund hat noch keiner gemerkt, dass wir herkommen.
Natürlich hat Dora das Café entdeckt. Sie sitzt gern beim Kaffee, raucht und liest Philosophie. Sie ist so unecht. Als Dora ihre neue Nickelbrille bekam, war ich davon überzeugt, dass sie sie nur trug, um intellektueller zu wirken. Zu meiner Überraschung waren echte Gläser drin. Sofia hat eine Brille mit Fensterglas, vergisst aber immer, sie aufzusetzen. Sie hat nie ihre Brille und Der Fremde gleichzeitig dabei, doch das macht nichts, weil sie das Buch sowieso nicht liest. Zugegeben, Dora ist schön. Sie hat langes, dickes, rötlichbraunes Haar, eine richtige Pferdemähne, und dunkelgrüne Augen. Aber mit Brille sieht sie aus wie vierzig. Es ist alles nur Show. Wie das Verrücktsein. Ihr Vater ist Seelenklempner, also hält er alle Leute für verrückt. Er ermutigt Dora noch, unecht zu sein. Sie geht zum Seelenklempner, seit sie zehn ist. Wenn sie wirklich verrückt wäre, fände sie es sicher nicht mehr so lustig.
Dora will meine Freundin sein, weil mein Vater so verrückt war, dass er sich umgebracht hat. Eigentlich müsste ich ihr sagen, dass er geistig vollkommen klar war, als er sich für die Rasierklinge entschied. Sie sagte einmal, alle großen Künstler seien verrückt geworden oder hätten sich umgebracht oder beides.
»Dafür braucht man sich nicht zu schämen«, sagte sie. »Shelley ertrank im Hellespont. Keats beging im Grunde Selbstmord, indem er seinen tuberkulösen Bruder pflegte. Kleist, Trakl, Walser, Hölderlin … schon mal von denen gehört?«
Ich hielt mir die Ohren zu.
Bevor wir die Schule verließen, sagte ich zu Dora und Charley, dass wir Lucy und Ernessa eigentlich fragen müssten, ob sie mitkommen wollen. (Es kommt mir falsch vor, die beiden Namen zusammen zu nennen, doch das tun jetzt alle. Es bedeutet nichts mehr, dass wir mit meiner Zahl angrenzende Zimmer bekommen haben. Ich hätte auch eines der besten Einzelzimmer haben können, so wie Ernessa. Ich habe es zugelassen. Ich habe nicht einmal versucht, es zu verhindern. So wie ich nicht versucht habe, meinen Vater zu hindern.) Wir konnten sie nicht finden, doch als wir eine halbe Stunde im Café saßen, kamen sie natürlich herein. Ernessa sah uns nicht mal an. Lucy lächelte schwach. Sie hatte Angst, zu uns, ihren so genannten Freundinnen, zu gehen. Sie folgte Ernessa wie ein Schaf an einen weit entfernten Tisch. Sie ging gebückt. Ihr Rock hing wie ein Sack an ihr herunter. Ihr Haar war matt und ungekämmt. Dabei war es sonst immer perfekt frisiert. Sie achtet plötzlich nicht mehr auf ihr Aussehen. Sie wirkt fremd. Dabei war sie mir immer so vertraut.
Sie setzten sich hin. Ich hörte, wie Lucy einen Kaffee bestellte, beide zündeten sich eine Zigarette an. Als der Kaffee kam, umklammerte Lucy den Becher, als wollte sie ihre Hände wärmen. Draußen ist es gar nicht so kalt. Die Zigaretten lagen in dem schwarzen Plastikaschenbecher, der mitten auf dem Tisch stand. Ernessa und Lucy beugten sich zueinander, als unterhielten sie sich angeregt, und der Rauch kräuselte sich um ihre Köpfe. Genauso stelle ich mir die College-Studentinnen vor, die abends mit ihren Freunden herkommen. Mir war schlecht, aber ich musste einfach hinschauen.
Auch Ernessa hat sich verändert. Ihre Züge wirkten übertrieben und grob. Wie hatte ich jemals glauben können, wir sähen uns ähnlich? Ihre Augenbrauen waren so dick, dass sie beinahe in der Mitte zusammenwuchsen. Die Oberlippe stand vor. Sie
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