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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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sicher. Das Lichtband unter meiner Tür tröstete mich. Ich schloss die Augen und schlief sofort ein.
29. November
    Ich bin als Erste zurück. Ich bat meine Mutter, mich früh zu bringen. Ich sagte, ich müsste morgen ein Referat abgeben, für das ich Bücher aus der Schule brauchte. Vier Tage mit ihr waren mehr, als ich ertragen konnte. Etwas ist mit ihr geschehen, seit ich auf die Schule gekommen bin. Jetzt weiß ich, warum sie mich nie anruft. Sie ist nur noch im Atelier. Sie schläft sogar dort. Aber sie lässt mich nicht hinein. Früher saß ich bei ihr, wenn sie arbeitete. Ich kochte ihr Tee, reinigte die Pinsel, half dabei, Leinwände aufzuspannen. Wir plauderten stundenlang über dies und das, während sie malte. Dieses Wochenende verbrachte ich größtenteils auf dem Sofa und las Proust. Meine Mutter verließ das Atelier nur, um zu meiner Tante zum Thanksgiving-Essen zu gehen, und auch da schloss sie hinter sich ab. Sie sagt, endlich könne sie die Trauer über den Tod meines Vaters ausdrücken, und wolle noch nicht, dass jemand es sieht. Es sei noch zu roh. Vielleicht wird sie es niemals jemandem zeigen. Sie hegt ihre Trauer.
    Nachdem ich mich entschlossen hatte, in der Schule zu bleiben, ließ ich mir von meiner Mutter alle meine Bücher schicken. Sie wollte nicht, musste aber. Sogar die Kinderbücher, die ich zu Tode gelesen hatte, die auseinander fielen und mit Buntstiftkritzeleien bedeckt waren. Ohne die Bücher fühlt sich mein Zimmer zu Hause so leer und kalt an. Es ist nicht mehr mein Zimmer. Ich halte mich ungern darin auf.
    Das ganze Wochenende hörte sie dieselbe Musik, wieder und wieder. Wenn die Platte zu Ende war, hob sie einfach die Nadel und setzte sie wieder an den Anfang. Es machte mich verrückt. Ich wusste im Voraus, wo die Platte springen würde, sodass meine Mutter die Nadel wieder richten musste. Ich musste raus, spazieren gehen. Beim Frühstück am Samstag war ich es schließlich leid und fragte, weshalb sie ständig dieselbe Platte höre.
    Sie sagte, es sei Mahlers Fünfte, die mein Vater unablässig gehört habe, bevor es geschah.
    »Ich versuche zu verstehen, wie genau er sich gefühlt hat. Diese Musik hat das, was an ihm zehrte, genährt, noch hungriger gemacht. Ich hasse diese Musik. Doch sie hat ihm wohl auch die Kraft zum Schreiben gegeben, also muss ich sie hören.«
    Ich versuchte, mich nicht aufzuregen, doch dann fing ich an zu weinen.
    »Sei nicht traurig«, sagte sie. »Ich bin auch nicht mehr traurig. Er war vollkommen unglücklich, als er lebte. Jeden Morgen öffnete er ganz langsam die Augen und schaute sich zögernd im Zimmer um. Voller Entsetzen entdeckte er, dass er noch atmete. Ich dachte, er wäre wegen mir gegangen. Ich gab mir die Schuld daran und an dem Schmerz, den du erlitten hast. Doch jetzt verstehe ich, dass er nur den ersten Schritt von mir weg machte. Das hat Mahler mich gelehrt. Er musste zuerst mit uns brechen, den beiden Menschen, die ihn an diese Erde fesselten. Er musste mit einer anderen Frau weggehen. Mit welcher, war ihm egal. Es konnte jede sein. Und das wusste sie auch. Er wollte, dass wir ihn hassten. Er betrog uns im Kleinen, damit wir den ultimativen Betrug akzeptieren konnten. Nachdem er gegangen war, hörte er weiter Mahlers Fünfte; das hat sie mir gesagt. Unaufhörlich, nannte sie es. Es machte sie verrückt. Sie hat mir die Platte danach wiedergegeben. Und jetzt endlich verstehe ich alles. Ich verstehe, wie dumm ich gewesen bin, dass ich nicht begriff, was vor meinen Augen geschah. Es kam daher, dass ich nur an mich dachte. Ich dachte nicht an ihn. An sein Leiden.«
    Das ist ihre Theorie.
    Ich habe meine Theorie. Er war so unglücklich, dass er nichts mehr fühlte. Er hasste das Leben. Er konnte sich nicht an die Liebe erinnern. Für ihn war alles gleich.
    Ich weiß noch, wie ich einmal ins Arbeitszimmer meines Vaters ging. Er saß am Schreibtisch. Er hatte nicht mal ein offenes Notizheft oder Buch vor sich. Er betrachtete seine Bücher – die Regale mit Büchern, die quer gestapelt waren, die Haufen auf dem Boden. Er sprach mit der tiefen Stimme eines Vorlesers: »Früher pflegte ich zu sagen, Bücher seien meine Nahrung. Nun aber ist meine ganze Nahrung vergiftet.« Ich lachte darüber. Doch es war kein Witz.
    Letzten Sommer am Strand glaubte ich, meiner Mutter ginge es besser, doch nun ist mir klar, wie sehr ich mich getäuscht habe. Sie will ihren Kummer pflegen, bis er allein leben kann. Er ist jetzt ihr Kind. Ich bin nur im

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