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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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Weg.
    Schule, Bücher, Lucy. Mal sehen, ob sonst noch jemand zurück ist.
     
    Niemand. Alle wollten bis zum allerletzten Moment wegbleiben. Hier ist es so still, stiller als mitten in der Nacht. Dann stelle ich mir vor, dass alle im Bett liegen, träumen, sich umdrehen. Selbst Mrs. Halton ist weg. Die Zeit hat sich schlafen gelegt.
    Müssen Geister gruselig sein? Vielleicht sind sie auch tröstlich, wie die Berührung einer vertrauten Hand.
    Als ich meinen Vater zum letzten Mal lebend sah, gingen wir im Botanischen Garten spazieren. Wir gingen gern dort, untergehakt, in Schweigen gehüllt. Nebel hing in der Luft, und ich zitterte. Alle Blätter waren von den Bäumen gefallen. Die Stämme waren dunkel vor Nässe. »Früher kam ich gern im Frühling her«, sagte mein Vater, »wenn alles bunt war und duftete. Eindrücke. Doch heute mag ich diese Jahreszeit am liebsten. Zwischen Herbst und Winter, wenn alles ohne Schmuck zu sehen ist. So, wie es ist. Es ist schwerer, Bäume an Rinde, Knospen und Form zu erkennen, aber dennoch wesentlich.«
    Ich muss ihn fragen: Sind Menschen wie Bäume? Gibt es eine Jahreszeit, in der wir sie sehen können, wie sie wirklich sind?
     
    Der Mann, den die Bäume liebten: Er verstand die Bäume, ihre Schutzbedürftigkeit, vor allem im Winter, wenn sich niemand sonst um sie kümmerte. Die Bäume wiederum liebten ihn so sehr, dass sie ihn mit ihrer Liebe verzehrten.
30. November
    Pater ist tot!
    Bis zum späten Vormittag wusste die ganze Schule Bescheid. Man hatte ihn am Sonntagmorgen mit durchgeschnittener Kehle auf dem oberen Sportplatz gefunden. Eine furchtbare Art, einen Hund loszuwerden. Eigentlich war es noch schlimmer. Betsy sagte, sein Kopf sei beinahe abgetrennt gewesen, man habe ihn aufgeschnitten wie einen Fisch.
    Ich wusste genau, wie er aussah, als sie ihn fanden. In seinem ergrauten, rostfarbenen Fell klebten harte, dunkle Blutklumpen. Die Beinchen standen ab, so steif, dass sie den Boden nicht berührten. Schwarze Fliegen wimmelten um Augen und Schnauze, fraßen an den feuchten Öffnungen.
    Während der Versammlung sagte Miss Rood nichts dazu, doch ihre Nase unter der dicken rosa Brille war gerötet. Offenbar war etwas nicht in Ordnung. So ist sie sonst nie.
    Sie wird nicht mal krank. Immerhin hat sie Gefühle. (Ich hörte mal das Gerücht, sie sei mit jemandem verlobt gewesen, der im Krieg gefallen ist. Im Ersten Weltkrieg?) Sie tat mir Leid.
    Keine Schülerin hatte das Wochenende in Brangwyn verbracht. Die Kinder aus der Gegend schleichen sich gern aufs Gelände, um Müll in der »Snob-Schule« abzukippen.
     
    Niemand verdächtigt uns.
    Pater läuft nie frei herum.
    Ich weiß, es war Ernessa. Ich weiß es einfach. Ich erinnere mich an unsere schwebenden Spiegelbilder, dass der Hund hinter ihnen verschwand, dass nur sein wahnsinniges Gebell zu hören war. Sie konnte das Geräusch nicht ertragen, wie sie auch den Geruch des Bestattungsinstitutes nicht ertragen konnte, in dem ihr Vater im Sarg lag. Behauptet sie jedenfalls. Pater war nur ein lästiges Hündchen, doch sie hasste ihn, als wäre das Hecheln nur für ihre Ohren bestimmt, eine besondere Folter speziell für sie. Einen derartigen Hass kann ich nicht nachvollziehen. Ich erzählte Dora und Charley, was Ernessa damals vor Miss Roods Wohnung gesagt hatte und dass sie immer unerwartet dort auftaucht, wo sie nicht sein soll. Beide fanden es echt gruselig.
    »Mein Vater würde sagen: ›Ernessa folgt nicht dir. Vielleicht folgst du ihr, aber auf große Distanz‹«, sagte ich.
    Sie dachten gerade darüber nach, als Lucy mit ihrem Tablett auftauchte. Sie verbringt nur noch das Mittagessen mit uns. Das Frühstück lässt sie aus. Manchmal stürzt sie in letzter Minute herein, wenn gerade abgeräumt wird, und trinkt allein einen schwarzen Kaffee. Sie behauptet, sie wolle abnehmen, obwohl sie schon so dünn ist. »Mein Bauch«, sagte sie, als wir alle protestierten. Ich weiß noch, wie ärgerlich sie war, als ich letztes Jahr Diät machte. Aber damals tranken wir am Wochenende noch gemeinsam Tee. Jetzt sehe ich sie am Wochenende kaum noch. Selbst wenn sie in ihrem Zimmer Hausaufgaben macht, sind die Türen zu.
    Wir verstummten gleichzeitig. Sie setzte sich ein bisschen abseits. Nachdem sie einen Bissen gegessen hatte, fragte sie: »Was ist denn los? Störe ich bei einer privaten Unterhaltung oder was?« Sie hörte sich traurig an.
    »Ach, nein, überhaupt nicht«, antwortete ich. Aber sie hatte uns bei etwas gestört. Wir

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