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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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wie früher. Es war zu traurig.
    Gegen zwölf kam Charley zu mir und sagte, Ernessa sei nicht in ihrem Zimmer. »Ich habe angeklopft, und falls sie nicht wie eine Tote schläft, ist sie weg. Ich wollte die Tür aufmachen, aber sie war abgeschlossen. Ich weiß nicht, woher sie den Schlüssel hat. Sehen wir mal bei Lucy nach.«
    Schon war ich im Bad und drehte den Türknauf. Lautlos stieß ich die Tür zu ihrem Zimmer auf und sah hinein. Ein leeres Bett mit zurückgeschlagener Decke hätte mich furchtbar unglücklich gemacht. Doch sie schlief tief und fest und wachte nicht auf.
    »Irgendwie glaube ich nicht, dass Ernessa sich mit einem Jungen im Brangwyn College trifft«, meinte Charley.
    »Das passt nicht zu ihr. Außerdem ist es draußen zu kalt.«
    »Holen wir Dora«, schlug ich vor.
    »Wir gehen raus und suchen Ernessa«, sagte Charley. »Ich habe Lust, high zu werden.«
    Wir gingen in Nachthemd und Mantel hinaus. Ich weiß nicht, was wir erwarteten. Es ist einfach, die Alarmanlage mit einem Stock zu blockieren. Den Stock zwischen die Türen zu klemmen, damit sie nicht zufallen. Und so was nennt sich Alarmanlage. Jeder weiß, wo der Stock versteckt ist.
    Wir gingen die Auffahrt bis zum hohen Eisentor hinunter. Die Torflügel stehen immer weit offen, selbst mitten in der Nacht. Dora und Charley drehten sich ständig um, als hörten sie Schritte hinter sich. Am Tor blickte ich zurück zur Residenz. Tagsüber parken immer die Wagen der Tagesschülerinnen in der Auffahrt, meist gelbe und grüne VW Käfer. Jetzt war sie fast leer. Der Schnee machte alles so still.
    Ich wusste sofort, warum Ernessa hier draußen war und allein durch die Nacht lief. Sie wollte wissen, wie die Residenz und der obere Sportplatz und die Auffahrt ausgesehen hatten, bevor sie zu einer Schule für junge Damen wurden, als noch Gäste auf den breiten Veranden Tee tranken und in Pferdekutschen vorfuhren. Sie stand irgendwo dort draußen, betrachtete die Veranden und malte sich alles aus.
    Zu Dora und Charley sagte ich nichts. Ich folgte ihnen durch die Eisentore, obwohl ich lieber zurückgegangen wäre. Sie hätten nicht verstanden, wieso ich innerhalb der Tore bleiben wollte. Wenn ich in der Schule bin, vergesse ich, dass die Welt existiert. Ich muss nicht an sie glauben. Vor den Toren ist alles in Nebel gehüllt. Ich sehe die Umrisse, doch es gibt nichts Greifbares dort draußen.
    Es war eine klare Nacht. Nur ein paar ausgefranste Wolken schimmerten silbern im Mondlicht. Der Mond stand hoch am Himmel und war so hell, dass er fast weiß aussah. Die Krater und Berge auf seiner Oberfläche traten so scharf hervor, als wären sie von Hand eingezeichnet. Jenseits des Eisenzaunes lag die Residenz, deren Türme sich zum Mond emporreckten, eine Kathedrale der Nacht. Lebe ich wirklich dort, gehe ich dort zur Schule? Oder ist es nur ein Traum?
    Wir kamen nicht weit. Wir standen direkt vor dem Tor. Es war sehr kalt, und wir mussten mit den Füßen stampfen, damit sie nicht taub wurden. Das gefrorene, verschneite Gras knirschte bei jedem Schritt. Wir waren höchstens zehn Minuten draußen, standen an der Ecke der breiten Straße. Gelegentlich sausten Autoscheinwerfer vorbei. Ich frage mich, was die Fahrer sich gedacht haben: drei Mädchen in der Winternacht, die Mäntel über ihren weißen Nachthemden trugen. Vielleicht hielten sie uns für Geister.
    Wir beschlossen umzukehren. Als wir die Auffahrt hinaufgingen, schaute ich über das glitzernde Feld zu der Stelle, an der die Büsche wachsen, an der Pater gestorben ist. Dort musste es sich befinden – ein langes, schwarzes Tier, riesige Schwingen, die sich in der Luft entfalten, ein schwarzer Streifen auf gefrorenem Boden. Wenn ich wartete, würde es sich im Mondlicht deutlich vom Schnee abheben. Die anderen rannten zur Tür. Riefen mir zu, ich solle mich beeilen. Doch sobald ich mich umdrehen wollte, glaubte ich wieder, etwas zu sehen. Ich musste die Dunkelheit beobachten, bis sie Gestalt annahm und sich enthüllte. Schließlich war das Mondlicht von Asche verschleiert, ein grauer Fleck vor meinen Augen. Da war nichts. So etwas gibt es nur in Büchern.
    Charley hielt mir die Tür auf. »Himmel, warum hat das so lange gedauert?«, rief sie. »Ich friere mir den Arsch ab, außerdem stinkt es hier nach totem Fisch.«
    »Klappe.«
    Da war wieder der fürchterliche Geruch, schlimmer denn je. Gleich morgen würde ich den Hausmeister bitten, sich um den Keller zu kümmern. So kann ich nicht Klavier üben. Der

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