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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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klang anders. Ich erkannte sie gar nicht. Ich starrte ungläubig auf das Telefon, als würde ich dadurch mit der Geisterwelt kommunizieren. Mir wurde klar, dass ich Lucy schon als tot betrachtet hatte, obwohl sie gar nicht gestorben war. Mir kam der Gedanke, dass ich mit diesem kleinen schwarzen Telefon auch meinen Vater anrufen könnte.
    Wirklich?, dachte ich dauernd. Wirklich?
    »Ich wollte dich besuchen«, sagte ich, »aber Mrs. Halton hat mich nicht gelassen. Ernessa schon, mich nicht.«
    »Ernessa war nicht da. Schon länger nicht«, sagte Lucy.
    »Du klingst gar nicht wie du selbst.«
    »Das Atmen fällt mir schwer. Ich muss die Luft in meine Lungen zwingen. Die Ärzte halten mich für ein Wunder.«
    »Na ja, wenn man bedenkt, dass sie nicht wussten, was überhaupt mit dir los ist.«
    »Ich vermisse dich. Ich vermisse die Schule«, sagte Lucy.
    »Du klingst so weit weg.«
    »Ich bin so weit weg. Sag mir, dass ich wiederkommen kann.«
    Langes Schweigen, nur unterbrochen von Lucys schwerem Atem.
    »Hattest du Angst?«, fragte ich.
    »Nur am Anfang. Ich habe mich dran gewöhnt.«
    Sie will, dass ich eine Tasche mit ihren Schulbüchern und Hausaufgaben packe. Ihre Mutter holt sie morgen oder übermorgen ab. Falls sie weiterhin Fortschritte macht, wird sie zum Ende der Woche in ein Krankenhaus verlegt, das näher an zu Hause ist.
    »In einem Krankenwagen. Die ganze Strecke«, sagte sie. »Meinst du, sie machen die Sirene an?«
    Nicht Ernessa soll ihre Sachen packen, sondern ich. Das würde ich Mrs. Halton gern sagen.
    Ich habe schon allen erzählt, dass es Lucy besser geht. Wir sind so froh darüber.
11. März
    Ich habe jetzt keine Zeit zum Schreiben. Es ist zehn Uhr, und ich habe noch eine Menge Hausaufgaben zu erledigen. Außerdem muss ich für morgen packen. Ich kann alles in den Ferien nachholen.
12. März
    Frühjahrsferien. Ich bin zu Hause. Ich bin müde.
    Ich hinke in allen Fächern hinterher und habe letzte Woche nur gelernt.
    Am Dienstag hat Lucys Mutter ihre Sachen abgeholt. Erst als ich sie sah, konnte ich wirklich glauben, dass ich mit Lucy telefoniert habe. Sie drückte mich an sich. Lucy ist schon viel kräftiger. Ihre Mutter konnte kaum glauben, dass die Ärzte vor einer Woche noch gesagt haben, sie werde sterben. Sie würde Lucy am nächsten Tag in das andere Krankenhaus bringen, wo sie vielleicht nur ein paar Tage würde bleiben müssen. Danach käme sie nach Hause. Sie will versuchen, in den Ferien ihre ganzen Hausaufgaben nachzuholen. Und wenn sie sich vollständig erholt hat, kommt sie wieder in die Schule.
    Ich erzählte, dass ich meine Fluraufsicht angefleht hätte, mich zu Lucy zu lassen, sie sich aber geweigert hätte.
    »Lucy war wirklich zu krank, um jemanden zu sehen«, meinte ihre Mutter.
    »Aber Ernessa durfte zu ihr.«
    »Das war ein Fehler«, sagte ihre Mutter. »Ich hätte mich nicht von ihr überreden lassen dürfen. Die Besuche haben sie völlig erschöpft, aber Lucy bestand darauf, Ernessa würde ihr gut tun. Mit Ernessa habe sie nicht so große Angst. Immer Ernessa. Schließlich habe ich nachgegeben. Ich wollte sie nicht aufregen. Doch Lucy hat nach jedem Besuch stundenlang geweint und wurde immer kränker. Es war einfach zu viel …«
    Ich sagte nichts. Es hatte keinen Sinn. Sie können mit ihren Mikroskopen nach Viren suchen, solange sie wollen. Sie werden keine finden.
    Lucy, Ernessa und ich sind diese Woche nach Hause gefahren und würden uns am besten nie wieder sehen. Ich würde Lucy sogar aufgeben, wenn Ernessa sie nur in Ruhe ließe.
    Ich muss ins Bett. Ich werde die nächsten zwei Wochen nur schlafen.
13. März
    Ich muss alles aufschreiben, falls ich später einmal zurückschauen muss … Ich muss einen präzisen Bericht hinterlassen. Ich kann mich nicht auf mein Gedächtnis verlassen.
    In den beiden Nächten, bevor ich nach Hause fuhr (Mittwoch und Donnerstag) bin ich mitten in der Nacht aufgewacht. Ich habe mich im Bett aufgesetzt, plötzlich hellwach, doch als ich aufstand, war mir, als läge ich noch im Bett und träumte nur, dass ich durchs Zimmer ginge. In der Auffahrt vor dem Fenster knirschten trockenes Laub und Eicheln. Ich sah hinaus. Jemand ging unter Lucys und meinem Fenster auf und ab. Das macht sie also jede Nacht, dachte ich. Sie schaut uns beim Schlafen zu. Als ich ans Fenster trat, hörten die Geräusche auf, jedenfalls hörte ich nichts mehr. Sie bewegte sich wie ein Tier im Käfig, zehn Schritte in die eine Richtung, genau zehn Schritte in die andere

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