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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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existiert haben kann, weil er keine Adresse in Nazareth hatte. Wozu also die Mühe? Montague Summers spricht sogar von einer »Philosophie des Vampirismus«. Philosophie?
    Ich muss einen Weg finden, um Lucy zu beschützen. Wenn sie nur das Schuljahr zu Ende bringt, wird alles gut. Noch drei Monate. Vielleicht gibt Ernessa auf und geht dorthin zurück, woher sie gekommen ist. Ich weiß nicht, ob ich stark oder tapfer genug bin. Daddy habe ich auch nicht gerettet.
17. März
    Lucy sollte besser nicht mehr in die Schule kommen, selbst wenn ich sie hier im Auge behalten kann. Gestern Abend habe ich sie angerufen. Sie sagt, es gehe ihr gut. Sie hat beinahe schon vergessen, wie krank sie war. Sie war beim Arzt, es ist alles in Ordnung. Sie haben so viele Blutuntersuchungen gemacht, dass kaum noch Blut aus ihrem Arm kommt. Er ist schwarz und blau von den ganzen Einstichen. Keine Anzeichen einer Bluterkrankung oder eines Virus. Der Arzt meint, sie habe womöglich unter einem schweren Fall von Drüsenfieber gelitten, das er als »Kusskrankheit« bezeichnete. »Ich weiß nicht, wie ich die hätte bekommen sollen, schließlich habe ich seit Jahren keinen Jungen geküsst. Und ich hatte auch nie Fieber«, meinte Lucy. Sie war mit ihrer Mutter einen ganzen Nachmittag lang einkaufen und fühlte sich überhaupt nicht müde.
    Ich muss wachsam bleiben.
18. März
    Daran hat mein Vater also gedacht, bevor er uns verließ. Wie lange ging das schon so? Er hat sämtliche Passagen, in denen es um Selbstmord ging, angestrichen. Und davon gibt es viele. Bei all unseren Spaziergängen dachte er daran, wie und wann er Schluss machen würde. Das Mädchen an seinem Arm hatte er ganz vergessen.
    Selbstmörder wurden nicht auf Friedhöfen beerdigt, weil man fürchtete, sie könnten von den Toten zurückkehren und andere mit sich ins Grab ziehen.
    Mein Vater hinterließ ganz genaue Anweisungen, was meine Mutter nach seinem Tod tun sollte. Er wollte eingeäschert werden, und zwar gründlich (dieses Wort hatte er unterstrichen, ich habe es selbst gesehen), und er bat uns, auf den Gipfel des Mount Washington zu fahren (wo man die stärksten Winde auf dem Planeten gemessen hatte, so schrieb er) und dort seine Asche zu verstreuen. »Sorgt dafür, dass die Asche im Wind verweht.« Und wir sollten keinen Trauergottesdienst abhalten. (Ebenfalls unterstrichen.) Meine Mutter tat alles, was er verlangt hatte. Das hatte er gewusst.
    Wer nicht ordentlich begraben wird und seine Zeit auf Erden nicht zu Ende gelebt hat, gerät in Gefahr. Wenn man zu früh stirbt, Selbstmord begeht oder getötet wird, bleibt der Geist womöglich auf Erden, bis man sein zugedachtes Alter erreicht hat. Ich weiß nicht, ob die Einäscherung den Geist vor der Wiederkehr bewahrt, bin aber froh, dass sowohl Dora als auch mein Vater eingeäschert wurden.
    In Montague Summers’ Buch gibt es eine Stelle, die mit blauer Tinte eingerahmt ist. Mein Vater hätte nie mit Tinte in ein Buch geschrieben, höchstens mit Bleistift. Gewöhnlich kaufte er Bücher gar nicht erst, wenn sie mit Tinte markiert waren. Vermutlich hat der Vorbesitzer die Passage über die Baganda (einen zentralafrikanischen Stamm) angestrichen:
     
    Die Leiche eines Menschen, der sich selbst zerstört hat, muss so weit wie möglich von aller menschlichen Behausung entfernt werden, ins Ödland oder an eine Straßenkreuzung gebracht und dort vom Feuer vollständig verzehrt werden. Dann muss das Holz des Hauses, in dem die furchtbare Tat geschah, zu Asche verbrannt und in alle Winde verstreut werden; hat sich der Mensch an einem Baum erhängt, so wird dieser gänzlich gefällt und mit Stamm, Wurzeln, Ästen und allem den Flammen übergeben. Selbst dies kann kaum als ausreichend gelten. Dieses Verbrechen wird als so entsetzlich empfunden, dass seltsamerweise irgendwo die Vorstellung lauert, der Geist eines Selbstmörders könnte die Einäscherung seines Körpers überleben. Daher muss der Makel dieser furchtbaren Tat von Grund auf getilgt werden.
     
    Was den Selbstmord meines Vaters betrifft, hatte meine Mutter vollkommen Unrecht, aber ich lasse sie glauben, was sie möchte.
    Durch seine Bücher kann ich endlich mit meinem Vater direkt kommunizieren. Mein eigenes schwarzes Telefon in die Geisterwelt. Er sagt mir Dinge, die er mir zu Lebzeiten nie gesagt hätte. Ich sollte sie nur erfahren, wenn es unbedingt nötig ist.
19. März
    Heute Morgen kam ich in die Küche und fand meine Mutter schluchzend vor Cornflakesschale und

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