Die Sehnsucht der Falter
Richtung. Für Ernessa ist die ganze Welt zu klein. Sie ist darin gefangen. Warum ist sie in dieses Internat gekommen? Lauter Kästen in anderen Kästen – der eiserne Zaun, die Residenz, der zweite Stock, Mrs. Haltons Flur, das Zimmer, das Bett. Kästen für Mädchen, die noch nicht bereit sind, der großen Welt mit Männern und Sex zu begegnen. Ich weiß, wie unwirklich es ist. Ich bin doch kein Idiot.
Sie wollte meine Aufmerksamkeit erregen. Sie tat mir beinahe Leid. Hätte sie nur nicht mein Leben zerstört. Ich sah sie zwei Nächte auf- und ablaufen, stundenlang. Sie bewegte sich mit derselben nervösen Energie, mit der sie ihre Zigaretten inhaliert. Sie lässt niemals nach. Und dann ging die Sonne auf. Ich schloss ein paar Sekunden die Augen, und sie war weg.
Ich sitze am Schreibtisch meines Vaters. Umgeben von seinen Büchern. Sie kennen die Antwort auf ihre Geheimnisse.
14. März
Sie verändert alle um sich herum. Sie findet heraus, wer sie sind und verwandelt sie in etwas anderes.
Im September, gleich nachdem die Schule begonnen hatte, kamen Dora und ich ganz gut mit Ernessa klar. Wir verbrachten sogar einen Abend miteinander. Lucy war nicht dabei. Es war ein Samstag. Sie war wohl übers Wochenende nach Hause gefahren. Damals fuhr sie fast jedes Wochenende nach Hause, um bei ihrer Mutter zu sein. Ich blätterte mein Tagebuch durch, konnte aber keinen Eintrag zu dem Abend finden. Das ist seltsam, weil ich mich ganz gut daran erinnere, worüber wir gesprochen haben. Ernessa fragte uns nach Miss Bobbie, die sie nach nur zwei Wochen bereits auf dem Kieker hatte. Ich sagte, ich nähme ihr ihren Antisemitismus gar nicht so furchtbar übel. Ich hätte nichts dagegen, ausgegrenzt zu werden. Immerhin bedeute es, dass ich anders sei als die Übrigen.
Ernessa lachte mich aus. »Deine sentimentalen Gefühle für das Jüdischsein kann ich nicht teilen. Diese Religion ist eine Last, ein kosmischer Scherz. Falls die Juden tatsächlich auserwählt sind, dann nur für eine besondere Bestrafung. Für sie ist die ganze Welt ein Friedhof. Und jeder Jude, der anders denkt, ist geistesgestört.«
»Kannst du es deshalb ertragen, Deutsch zu sprechen?«, fragte ich. »Die Sprache von Mördern?«
»Du kannst doch auch etwas Deutsch. Die Sprache Rilkes und Heines«, sagte Ernessa. »Der größten lyrischen Dichter. Außerdem ist jede Sprache die Sprache von Mördern. Es ist nur passend, dass die Sprache mit den meisten Toten auch die grandiosesten Gedichte hervorbringt.«
Ich war entsetzt. Damals kannte ich sie kaum. Sie war ein Mädchen aus einem fremden Land, das aus dem Nichts aufgetaucht und im Zimmer gegenüber von Lucy und mir gelandet war. Sie und ich waren die einzigen echten Jüdinnen in unserer Klasse. Ich sah zu Dora hinüber. Sie runzelte die Stirn. Für sie war das Jüdischsein nur eine intellektuelle Pose. Sie ließ sie fallen, sobald es ihr lästig war. Sie entjudete sich. War Dora mit Ernessa zusammen, wollte sie sich jüdisch fühlen, obwohl Ernessa ihr eigenes Jüdischsein gar nicht ernst nahm. Letztlich hasste Miss Bobbie uns alle drei.
Die Beschreibung ist immer gleich: ein langes, schwarzes Tier, das einer Katze ähnelt, einen Meter bis einen Meter fünfzig lang. Das Tier schreitet immer schneller durchs Zimmer, während alles umherwirbelt und sich verdunkelt. Es ist wie eine Furcht erregende Karussellfahrt in einem Vergnügungspark.
Aber das stimmt nicht.
Wer hat je einen echten Vampir gesehen?
Kann man seinen Anblick ertragen?
Ernessa zeigt sich mir immer in menschlicher Gestalt. Und doch habe ich den Eindruck, sie will mich verwirren, täuschen. Das habe ich auch empfunden, als mein Vater starb. Warum sollte ich mir etwas vormachen?
15. März
Ich bin feige. Als Dora vor Weihnachten starb, hatte ich alle Beweise in der Hand, wollte aber aus lauter Angst nichts unternehmen. Ernessa ist nur an Lucy interessiert. Uns Übrige sieht sie gar nicht. Wir sind ihr lästig. Unser Leben ist nicht mehr wert als das einer Fliege, die man achtlos totschlägt. Sie will eine Gefährtin in ihrem Dasein. Eine Gefährtin, die nur ihr gehört, für immer.
Merke: Es ist keine Liebe. Es ist Leidenschaft. Und der Vampir benötigt die Zustimmung seines Opfers.
16. März
In den Büchern steht es immer falsch. Die meisten Schriftsteller glauben nicht an Vampire. Sie suchen immer nach einer wissenschaftlichen Erklärung. Es ist, als schriebe man ein Buch über Jesus und gelangte zu dem Schluss, dass er unmöglich
Weitere Kostenlose Bücher