Die Sehnsucht der Falter
bekommt bei Schneefall Sonnenbrand.
Ich wollte ebenfalls zum Übergang gehen, doch Sofia packte meine Hand, und ich ging mit den anderen in den Schnee.
Wir gruben mit den Händen im eisigen Schnee und stopften ihn einander kreischend von hinten in die Jacke. Wir legten uns auf den Rücken und machten mit Armen und Beinen Engel. Der Schnee war dick und weich, die Engelsflügel waren absolut perfekt. Wir dachten uns Schneetänze aus. Alles war weiß, dämmrig, verschleiert.
Als ich aufstand, klebte der Schnee in nassen Klumpen an meinen Kleidern. Mir wurde klar, dass ich Lucy beim Spielen im Schnee völlig vergessen hatte.
Im Übergang drückte sich ein Gesicht an die Scheibe. Sie sah zu, wie wir im Schnee spielten. Durch das dicke Glas müssen wir wie Geister ausgesehen haben.
Ich weiß noch, wie sie sich von der Sonne abwandte, als Miss Norris die Tür öffnete.
20. Februar
Endlich hat Mrs. Halton etwas von Lucy gehört. Sie haben alle möglichen Untersuchungen durchgeführt, aber man weiß bisher nur, dass sie unglaublich anämisch ist. Sie halten es für eine Art Blutkrankheit, bei der das Immunsystem die roten Blutkörperchen bekämpft. Mrs. Halton sagte, Lucys Blutkörperchen seien unreif. Das klingt eher wie eine Charakterschwäche als wie eine Krankheit. Sie hat eine Menge Bluttransfusionen bekommen. Sie ersetzen praktisch ihr gesamtes Blut. Sobald sie stabil ist, will ihre Mutter sie in ein Krankenhaus bringen, das näher an zu Hause ist. Sie darf im Moment keinen Besuch haben. Und das nicht nur, weil sie schwach ist und Ruhe braucht. Es hat damit zu tun, dass sie ganz durcheinander ist und ständig weint.
Lucy ist nicht der Typ für einen Nervenzusammenbruch. Dafür ist sie zu unkompliziert. Und vor diesem Schuljahr war sie immer glücklich und zufrieden. Eigentlich bin ich diejenige, die immer besorgt und durcheinander ist. Selbst wenn sie weiß, dass ich sie mit Ernessa gesehen habe, kann die Scham darüber doch nicht ihre Blutkörperchen angreifen.
Ich wünschte, ich könnte sie noch einmal sehen, bevor sie nach Hause fährt. Vielleicht kommt sie nie wieder in die Schule. Ich muss sie noch ein einziges Mal sehen, ihr ins Gesicht schauen, ob dort irgendein Zeichen oder nur leere ist.
21. Februar
Wordsworth: »›Wär Lucy …‹, rief ich selbst mir zu, ›Erbarmen, wär sie tot!‹«
Als ich diese Zeile zum ersten Mal las, musste ich an Lucy denken.
Heute habe ich Mrs. Halton angefleht, mich Lucy im Krankenhaus besuchen zu lassen. Ich sagte, ich mache mir solche Sorgen um sie, dass ich mich auf nichts mehr konzentrieren könne. Ich könne weder schlafen noch essen. Ich merkte, dass sie ein bisschen nachgab, und bohrte weiter.
»Sie ist meine beste Freundin, seit ich hier bin. Sie hat mir immer geholfen, wenn ich Probleme hatte.« Dann brach ich in Tränen aus. Sie sagte, sie wolle morgen mit Lucys Mutter reden.
Es stimmt; ich kann mich auf nichts konzentrieren. Ich verbringe die meiste Zeit in meinem Fenstersitz und schaue hinaus. Ich denke an gar nichts. Ich betrachte die kahlen Äste der Eiche, die vor meinem Fenster wächst; die Astgabeln, die verdrehten Schösslinge, die sich ins Nichts schlängeln, die dunklen Furchen in der grauen Rinde. Das Glas im Fenster ist sehr alt, wie alles in der Residenz, und es verzerrt, was auf der anderen Seite ist. Es ist, als wäre man unter Wasser und schaute von unten in die Welt hinauf. Durch grünes Wasser sehe ich hoch zu Bäumen und Himmel. Die Geräusche sind gedämpft. Das Licht ist flüssig.
Ich habe mein Interesse an Büchern verloren. Früher konnte ich ohne sie nicht leben. Jetzt ist eine Glasscheibe zwischen mir und allem.
22. Februar
Eigentlich hätte ich Lucy besuchen dürfen, aber ihr Zustand hat sich letzte Nacht stark verschlechtert. Jetzt ist es unmöglich. Nach dem, was Mrs. Halton mir erzählt und was ich im Übrigen nicht so ganz glaube, wissen die Ärzte nicht genau, was mit ihr los ist. Sie tun immer wieder dasselbe, geben ihr neues Blut und hoffen, dass es hilft. Eine Zeit lang geht es ihr besser; dann wird sie wieder schwächer. Heute wurde mir klar, dass Mrs. Halton es genießt, mir schlechte Neuigkeiten zu überbringen. Dabei kommt sie sich wichtig vor.
Ich muss sie sehen. Wer weiß, wer sie jetzt ist, wenn das Blut so vieler Menschen durch sie fließt. Jedenfalls nicht mehr Lucy. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sich anfühlt. Blut ist etwas ganz Persönliches, Intimes. Jetzt wird sie vom Blut anderer Leute am
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