Die Sehnsucht der Falter
Kaffeetasse. Ich setzte mich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern.
»Ich weine nicht um mich, Liebes. Ich weine um ihn.«
»Warum?«
»Er hat mich jede Nacht im Traum besucht. Ich glaube, er ist einsam. Und letzte Nacht war er so wütend. Er konnte nicht mal sprechen. Er hielt mir nur das Gesicht hin, damit ich seine Wut sehen konnte.«
»Es war nur ein Traum«, sagte ich.
»Ist er wütend, weil ich noch hier bin? Oder begreift er jetzt, dass er einen Fehler gemacht hat?«
»So darfst du nicht reden.«
Ich hielt meine Mutter im Arm, bis sie sich beruhigt hatte und frühstücken konnte. Ich muss wieder in die Schule. Ich erinnere meine Mutter an ihn.
Wenn ich ihr erzählen würde, was in der Schule vorgeht, wäre sie bestimmt sauer und würde sagen, ich solle nicht so daherreden. Die Begegnungen anderer Menschen mit der Geisterwelt zählen nicht. Nur ihre sind echt.
20. März
Gerade hat Lucy mich angerufen und nach Chemie gefragt.
Wir haben ewig telefoniert. Ich habe versucht, ihr das Orbitalmodell zu erklären. Ich glaube, sie hat es kapiert. Sie erzählte mir von den neuen Kleidern, die ihre Mutter ihr gekauft, und den Stofftieren, die sie im Krankenhaus bekommen hat. Sie hört sich wieder genau wie Lucy an. Das ärgert mich. Wenn man dem Tod so nahe war, muss man doch ein anderer Mensch geworden sein. Man hat etwas erblickt (niemand weiß, was es ist, ein Lichtblitz oder die Erinnerung daran), das wir anderen unmöglich verstehen können. Dieses Wissen ist schon von ihr abgetropft. Vielleicht hatte Dora Recht, und ich habe mir jahrelang eingeredet, Lucy sei anders, als sie wirklich ist – kein leeres Blatt. Sie ist nicht das Mädchen aus dem hellblauen, sonnendurchfluteten Zimmer. Die Christen sind uninteressant, weil bei ihnen alle auferstehen.
21. März
Heute ging es meiner Mutter viel besser. Kein Schluchzen über den Cornflakes. Das war gestern. Heute Morgen beim Frühstück fragte sie mich, warum ich mich nicht mehr mit meinen alten Freundinnen treffe.
»Wir haben nicht mehr so viel gemeinsam«, sagte ich. »Ich habe sie seit Jahren kaum gesehen.«
»Letzten Sommer hast du sie noch angerufen.«
»Ich habe jetzt bessere Freundinnen in der Schule. Sei doch froh.«
»Es wäre gut für dich, mal rauszukommen, das ist alles. Du verbringst den ganzen Tag im Arbeitszimmer deines Vaters.«
»Ich habe an einem Projekt für die Schule gearbeitet. Ich habe in den Ferien eine Menge zu tun.«
Ich muss alles vor ihr verbergen, vor allem mein Tagebuch. Sie würde es nicht verstehen. Es macht mir Angst, Dinge vor ihr zu verbergen. Jetzt tue ich genau das, was sie auch macht.
Heute oder morgen Abend gehen wir mit meiner Tante ins Kino. Ich glaube, meine Mutter will mich aus dem Haus holen.
Mitternacht
Ich dachte, sie existiere nur innerhalb der Schultore. Hier habe ich mich sicher gefühlt.
Nach dem Mittagessen bin ich ins Metropolitan Museum gegangen, damit sich meine Mutter keine Sorgen machen musste, dass ich mich wieder mit den Büchern meines Vaters verkrieche. Ich lief durch das Museum, bis ich zu den flämischen Malern kam. Ich las die Namen unter den Bildern – Dieric Bouts, Petrus Christus, Hans Memling, Jan van Eyck, Quentin Massys. Als mich meine Mutter vor Jahren nach der Schule durch die Galerien schleppte, hatte ich mir bei den harten Silben die Zunge verdreht. Eine Zeit lang gingen wir praktisch jeden Tag hin. Die Namen klangen so christlich und devot. Ich betrachtete die Federn der Engelsflügel und die traurigen, resignierten Gesichter der Frauen.
Ich ging an all diesen Gemälden vorbei. Die vertrauten Gesichter langweilten mich. Stattdessen blieb ich vor dem Porträt einer jungen österreichischen Prinzessin stehen, das mir noch nie aufgefallen war. Ich schaute angestrengt in ihr Gesicht, das von einem kunstvollen Tuch und einem braunen Pony eingerahmt wurde, auf ihre gewölbte Stirn, die knochige Nase und den roten Schmollmund. Sie stand vor einem Fenster, das den Blick auf eine weite Landschaft mit Burgen, Baumgruppen und blauen Hügeln freigab, doch ihr Blick war irgendwo zwischen der Landschaft und mir gefangen. Ich dachte an Ernessa, die im Übergang aus dem Fenster starrte, als wären das Naturwissenschaftsgebäude und die Mädchen, die über den mittleren Sportplatz rannten, und die Autos, die jenseits des eisernen Zauns entlangfuhren, nur eine Illusion, die sie mühelos durchschaute. Hingabe, Besessenheit – wer kann sie unterscheiden.
Auf der Treppe vor dem Museum
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