Die Sehnsucht der Konkubine
milchig rosafarbenen Talisman, den er ihr geschenkt hatte, und sie dachte an das letzte Mal zurück, als er zu ihr gekommen war, und wie er ganz groß und stark in der Tür zu dem alten Schuppen gestanden hatte. Sein schwarzes Haar war vom Wind zerzaust gewesen, und er hatte wie ein Halbwilder ausgesehen, mit dieser schmuddeligen grünen Decke über seinen Schultern, anstelle eines Mantels. Und mit Begierde in den Augen.
Ich muss dich hier zurücklassen, Licht meiner Seele, hatte er gesagt. Hier bist du in Sicherheit .
In Sicherheit? Sie begann wieder in dem kleinen Zimmer auf und ab zu gehen. Was hatte es für einen Sinn, in Sicherheit zu sein, wenn sie dafür ohne den einen Menschen sein musste, der ihr Blut zum Singen brachte? War das der Grund, warum sie all die Risiken einging, die Alexej so sehr ablehnte? Armer Alexej, sie wusste, dass sie ihn manchmal in den Wahnsinn trieb. Ihr Halbbruder war als Teil einer privilegierten Elite aufgewachsen, zuerst in den duftgeschwängerten Salons Russlands und dann in China. Er war an Ordnung und Disziplin gewöhnt. Nicht an diese Ungewissheit, nicht an dieses Chaos. Und es war auch nicht gerade hilfreich, dass er und der Kosak sich hassten und sie zwischen den beiden stand. Es war Liew Popkow gewesen, der ihrer Mutter Valentina in Tschangschu die Nachricht aus Russland überbracht hatte; die Nachricht, dass der Ehemann, von dem sie immer geglaubt hatte, er sei während ihrer Flucht als Weißrussen vor den wütenden Bolschewiken getötet worden, am Leben sei, und zwar in einem Gefangenenlager.
Wie er das erfahren hatte, hatte Lydia nie herausgefunden, doch sie hatte Alexej instinktiv Glauben geschenkt. Liew hatte ihr in China geholfen, als sie in der gefährlichen Hafengegend von Tschangschu nach Chang An Lo gesucht hatte. Popkow hatte sie mit allen Mitteln beschützt, hatte wütend ihr Geld abgelehnt, als sie ihn für seine Dienste als Leibwächter bezahlen wollte. Erst später, als sie erfuhr, dass er – und vor ihm sein Vater – zur Zeit des Zaren in St. Petersburg ergebene Diener ihres Großvaters gewesen waren, hatte sie begriffen. Eine Welle der Zuneigung für den Kosaken hatte sie erfasst. Seine Treue rührte sie. Zutiefst. Sie vertraute ihm, und das war etwas, was sie über alles zu schätzen gelernt hatte. Vertrauen.
Und Alexej? Konnte sie ihm vertrauen?
Lydia erschauderte und ging zu dem schmalen Fenster ihres Zimmers, um lange auf den weiten Winterhimmel hinauszublicken, auf die Sterne, die in der Dunkelheit glitzerten, und all die Lichter der kleinen Stadt Seljansk, die sich für die Nacht bereit machte. Wieder einmal spürte sie, wie die Landschaft Russlands ihr ans Herz wuchs, wie sie sie beruhigte und etwas in ihr zum Klingen brachte, was schon lange tief in ihr schlummerte. Sie liebte dieses Land, liebte seine große, gepeinigte Seele. Nach der langen Abwesenheit in China endlich wieder den Fuß auf die russische Heimaterde setzen zu dürfen, war ihr ein großes Bedürfnis gewesen, von dem sie gar nicht gewusst hatte, dass es überhaupt in ihr existierte.
Empfand Alexej das ebenso? Dieses Verlangen? Sie war sich nicht sicher. Er war schwer zu durchschauen. Doch allmählich wurde sie besser im Entziffern, und obwohl sie davon überzeugt war, dass er hinter der gleichgültigen Fassade seine Gedanken für sich behielt – indem er diese strenge Selbstdisziplin vorschob, für die sie ihn ebenso beneidete wie verachtete –, hatte sie gelernt, auch nur das winzige Anheben einer Augenbraue zu interpretieren. Oder das Zucken eines Wangenmuskels. Oder das kaum wahrnehmbare Verziehen seiner Lippen, wenn er sich über etwas amüsierte.
O ja, Alexej, du bist längst nicht so undurchschaubar, wie du es gerne hättest. Ich stöbere in deinem Inneren, ich schnüffele all die Geheimnisse aus, die du zu verbergen suchst. Wir mögen denselben Vater haben, aber unsere Mütter waren sehr unterschiedlich. Und ich bin auch nicht so blind, wie du denkst. Es war dir unangenehm, als ich dir heute Abend einen Kuss auf die Wange gegeben habe, stimmt’s? Du hattest es auf einmal sehr eilig, aus diesem Zimmer herauszukommen. Als hätte ich dich gebissen. Willst du mich nicht zur Schwester haben? Ist es das? Bin ich nicht das, was du dir gewünscht hast? Habe ich zu viel von dem aristokratischen Blut vergossen, das durch meine Adern floss, und meine Blutbahnen stattdessen mit den Überlebensinstinkten einer streunenden Katze angefüllt, wie meine Mutter immer behauptet
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