Die Sehnsucht der Konkubine
hat?
Lydia und Alexej hatten viele Jahre in derselben chinesischen Stadt gelebt, doch hatten sie sich in unterschiedlichen Kreisen bewegt, ohne dass sich ihre Pfade kreuzten. Erst als der frischgebackene Verlobte ihrer Mutter Lydia in die vornehme Glitzerwelt und in die Elite von Tschangschu eingeführt hatte, lernte sie Alexej kennen. In einem französischen Restaurant, erinnerte sie sich. Und sie hatte ihn für arrogant und kaltherzig gehalten.
Dennoch hatte er sie großzügig unterstützt, als sie Hilfe brauchte, und nach dem Tode ihrer Mutter vor wenigen Monaten hatte sie durch einen Brief, den Valentina ihr hinterlassen hatte, die Wahrheit erfahren. Dass nämlich zwar Alexejs Mutter die wohlhabende Gräfin Serowa war, sein Vater jedoch Jens Friis, der dänische Ingenieur. Zu der Affäre war es in St. Petersburg gekommen, lange bevor er Valentina geheiratet hatte, doch Alexej war ebenso schockiert gewesen wie sie, als er entdeckte, dass sie miteinander verwandt waren. Sie wusste, dass es seine Welt ebenso ins Wanken gebracht hatte wie ihre eigene. Beide waren bis zu diesem Punkt Einzelkinder gewesen und jeder auf seine Weise mit ihrer Einsamkeit umgegangen, doch jetzt … Vor ihrem inneren Auge beschwor sie seinen durchgedrückten Rücken herauf, sein ordentlich gekämmtes Haar und das verhaltene Lächeln … Jetzt hatte sie also einen Bruder. Einen, der es sich ebenso in den Kopf gesetzt hatte, ihren gemeinsamen Vater zu finden wie sie selbst.
Bei dem Gedanken an Jens Friis, der vielleicht in einem der brutalen Gefangenenlager Stalins interniert war, stieg urplötzlich ein tiefer Schmerz in ihr auf. Sie presste die Stirn an die eisige Fensterscheibe, und die plötzliche Kälte des Glases riss sie aus einer Welt zurück, die sie lieber nicht besuchen wollte. Sie konzentrierte sich auf morgen. Auf den Bahnhof. Auf einen weiteren langen Tag mit Alexej und Popkow. Es war falsch, was sie da in der Schänke getan hatte, indem sie dem Kosaken etwas über Alexej zugeflüstert hatte, um ihn zu ködern.
»Siehst du ihn da oben, Popkow? Er schaut dir zu.«
Ihre Worte waren wie ein heißer Windhauch in seinen Ohren gewesen.
»Er will, dass du verlierst. Er lacht, Popkow, er lacht sich ins Fäustchen. Da … Ja, siehst du, jetzt, da du gewinnst, ist er fort. Konnte es nicht ertragen, dich gewinnen zu sehen.«
Doch sie hatte es nicht zulassen können, dass er verlor. Dann hätte er nämlich beschlossen, für den Rest der Woche zu saufen, hätte sich geweigert, zu reisen, ja sogar zu reden. Auch das war schon vorgekommen.
Abrupt wandte sie sich dem Bett zu, auf dem die verbliebenen Münzen zu zwei gleichen Teilen lagen. Ein Häufchen leerte sie in einen ihrer Handschuhe und vergrub ihn in den Tiefen ihres Gepäcks, wie ein Fuchs, der für den Winter Vorräte anlegt. Das andere schlug sie in das grüne Tuch ein, um es am Morgen Popkow zu geben. Am Morgen. Noch so eine Morgendämmerung, die sie durchstehen musste. Nie fühlte sie sich einsamer als zu dieser Tageszeit, wenn sie aufwachte und sah, dass Chang An Lo nicht neben ihr im Bett lag. Aber vielleicht würden sie es morgen ja wenigstens schaffen, dieser müden Stadt den Rücken zu kehren. Sie tippte mit dem Finger mehrfach gegen die Fensterscheibe, als wollte sie die unbekannten Mächte wecken, die irgendwo dahinter auf sie warten, und sprach die Worte, die sie in den vergangenen fünf Monaten jede einzelne Nacht gesprochen hatte.
»Jens Friis, ich komme.«
Und wie immer hörte sie Chang An Los warnende Worte, die er ihr ins Ohr flüsterte. »Du wirst ins Maul des Drachen steigen.«
Der Bahnhof von Seljansk lag nicht im Zentrum der Stadt, sondern, als hätte jemand es sich nachträglich anders überlegt, an ihrem westlichen Rand. Der Fahrkartenschalter und der nikotinvergilbte Wartesaal waren aus solidem Kiefernholz gezimmert, obwohl die Farbe in Streifen abblätterte. Die winterliche Luft war klirrend, und ein eisiger Wind lähmte Lydias Wangenmuskeln, als sie auf den überfüllten Bahnsteig trat, die Augen von Gesicht zu Gesicht huschend, auf der Suche nach neuen Reisenden. Die Grüppchen von Familien waren ihr mittlerweile vertraut, wie sie in ihren geflickten fufaika- Jacken zusammenstanden und an den silbrigen Geleisen entlangblickten, als könnten sie allein durch ihre Willenskraft einen Zug heraufbeschwören, der sich mit einer dicken Dampfwolke über der Lokomotive näherte.
Die Fremden entdeckte sie sofort. Sechs Männer und eine Frau. Kurz
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