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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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herab, sodass ihr Kinn beinahe die
Brust berührte.
    Der Mann mit der
schwarzen Kapuze trat neben sie. Er hob das Schwert an.
    Im gleichen Moment
begann der Offizier, auf sie einzubrüllen. Dem Ton seiner Stimme entnahm
Bernina, dass er Fragen stellte, dass er etwas von ihr wissen wollte, wohl wer
sie war, was sie hier wollte. Ihre Lippen klebten aufeinander. Du hast alles
falsch gemacht!, sagte sie sich. Alles!
    Stille. Das Einzige, was
Bernina hörte, war das Einatmen des Mannes mit dem Schwert. Dann hielt er die
Luft an. Die Konzentration vor dem tödlichen Schlag.
    Noch einmal wollte
Bernina Anselmos Namen nennen, ganz laut, ihre Kehle allerdings war
ausgetrocknet, ihre Stimme hatte sich verloren. Sie schloss die Augen, stellte
sich auf das widerliche Geräusch ein, das Surren der Klinge. In ihr war nichts,
keine Bilder, keine Erinnerungen, nichts als Leere. Sie hörte nichts, nichts
außer dieser schneidenden Stille.
    Doch – eine Stimme.
Beherrscht und befehlsgewohnt. Spanische Wortfetzen, begleitet vom Klang
eiliger Schritte.
    Bernina drehte den Kopf,
öffnete die Augen. Nur einen Meter von ihr entfernt stand eine Frau.
    Die Wölfin. Bernina
wusste es sofort.
    Eine knappe Kopfbewegung
der Frau. Der Scharfrichter trat zurück. Eine weitere Kopfbewegung, diesmal in
Berninas Richtung.
    Bernina erhob sich. Die
Fesseln wurden gelöst, und sie bewegte die Finger, fuhr sich mit der
Zungenspitze über die Lippen, fühlte, dass noch Leben in ihr war.
    Die Frau sagte etwas zu
ihr.
    »Anselmo«, erwiderte
Bernina rau und war fast überrascht davon, dass ihre Stimme doch noch irgendwo
in ihr war.
    Die Blicke der Dame
wanderten über sie hinweg, nahmen jede Kleinigkeit an ihr wahr.
    Das war die Person, die
Juan Alvarado Betrügerin genannt hatte, eine Schlange, eine Diebin, eine Frau
ohne Skrupel. Schlank und stolz, hochgewachsen und elegant. Eng stehende,
blitzende, intelligente Augen, die das schmale Gesicht dominierten. Spitz die
Nase, zielstrebig nach vorn drängend. Von Grau durchsetzt ihr dunkles Haar, das
kunstvoll um ihren perfekt geformten Schädel drapiert war. Ein schwarz-violett
changierendes, durch Goldlamé und Rüschen verziertes, ungewöhnlich tailliertes
Gewand, dessen faltenreicher Rock sich bauschte, verhüllte den schlanken
Körper.
    Bernina nahm all diese
Einzelheiten in sich auf – doch es waren vor allem die Augen, die ihre
Aufmerksamkeit auf sich zogen. Diese Augen. Sie waren von einem strahlenden
Blau. Bernina kannte ein Augenpaar, das diesem zum Verwechseln ähnlich war.
    Erneut hörte sie hastige
Schritte, die sich von draußen näherten. Alle wandten sich dem Geräusch zu, und
Bernina verspürte ein ganz seltsames Gefühl, das sie plötzlich packte, das ihr
den Atem nahm. An der eleganten Dame starrte sie vorbei auf den Mann, der sich
der offen stehenden Zellentür näherte. Sie sah das schwarz glänzende Haar, sah
den gebräunten Teint seiner Wangen, sah diese Augen, die ihren Blick auffingen.
Augen, die so blau waren wie die der Wölfin.
    Er stürmte in diesen
Käfig aus Stahl und trat genau vor Bernina, ohne sonst irgendjemanden zu
beachten.
    Stille. Wie zuvor. Und
doch ganz anders.
    Sie standen einander
gegenüber, so nah, dass sie sich hätten berühren können. Beide jedoch waren wie
erstarrt.
    In den letzten Tagen
hatte Bernina aufgegeben, sich diesen Moment zu erträumen – und jetzt war er
doch gekommen.
     
    *
     
    Nach den Jahren der tiefen Vertrautheit war es seltsam, ihn auf
diese Weise zu spüren. Die Kleidung, die er trug, war ihr fremd. Die Umgebung,
die sie zu erdrücken schien, war ungewohnt. Er allerdings war noch derselbe,
zweifellos. In seinen Armen zu liegen, fühlte sich so an wie früher. Ihn zu
küssen, war wie früher. Und doch war dieses Wiedersehen nicht ungetrübt. Zu
viel Unausgesprochenes hatte sich aufgetürmt. Innerhalb kurzer Zeit, nach
Jahren ohne Geheimnisse.
    Im Zimmer brannte eine
Kerze, die einen Kreis aus gelblichem Licht an die Wand warf. Vor dem großen
Fenster gab es nichts als Kälte und Regen, Regen und Kälte. Seit Valencia schon
wurde Bernina von diesen grauen Wolken verfolgt. Nicht nur sie hatten sie
endgültig eingeholt, auch die Unsicherheit, die Enttäuschung über Anselmos
Vertrauensbruch. Und natürlich die Fragen, all diese offenen Fragen.
    Endlich war die
Gelegenheit da, sie alle zu stellen. Keine einzige jedoch kam über ihre Lippen.
Und auch Anselmo war in Schweigen verfallen, nachdem er zunächst mit vielen
Worten seine Freude zum

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