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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Ausdruck gebracht und seine Frau immer wieder geküsst
hatte, mit Tränen in den Augen.
    Ohne sie der Wölfin
vorzustellen, hatte er Bernina aus dem Gefängnis geführt, ihre Hand fest von
seiner umschlossen, quer über den Platz, wo ihnen zahllose Blicke folgten. Dann
über die Treppe, zwischen den Wölfen aus Stein hindurch, in die Halle hinein,
deren weiß gekalkte Wände mit einer Ahnengalerie geschmückt waren. Nur in
irgendwelchen Tiefen ihres Bewusstseins, wie in Traumbildern nahm Bernina alles
wahr, als würde sie es aus der Ferne beobachten. Schließlich dieses Zimmer, wo
sie sich lange in den Armen lagen, Bernina noch immer von diesem Gefühl des Unwirklichen
beherrscht.
    Erst als sie sich von
Anselmos Körper löste, konnte sie wieder klarere Gedanken fassen. Sie sah die
teuren, vornehmen Möbel – das große Bett, auf dem Anselmo nun etwas zögernd
Platz nahm. Ein Prachtbett mit einem Himmel aus weißem Satin, mit Silberfäden
und Blumen und Ranken, gestickt aus farbiger Seide, und für einen Moment dachte
Bernina an die Schlafstelle von gerade eben, an die Blutflecken darauf.
    Anselmos Augen suchten
sie. Die Freude, die ihn zuvor ergriffen hatte, wich offenbar einer
Verhaltenheit. Die braun gebrannten Hände ruhten in seinem Schoß.
    All
diese Fragen. Doch nach wie vor fand Bernina nicht das richtige Wort, um zu
beginnen. Als hätte die lange Trennung dazu geführt, dass sie beide sich nicht
mehr in derselben Sprache verständigen konnten.
    Und
so war er es, der das Schweigen brach. Er blieb auf dem Bettrand sitzen,
während Bernina mitten im Raum stand. Seine Stimme schwebte zwischen ihnen in
der Luft.
    »Gern
würde ich dir noch einmal sagen, wie froh ich bin, dass du hier bist. Wie
glücklich ich bin, dich zu sehen, dich berühren zu können. Auch wenn ich es
immer noch nicht glauben kann, dass du kein Wunschtraum bist. Nichts könnte es
geben, was ich mir mehr gewünscht hätte.«
    Bernina blickte in
Anselmos Gesicht, doch sie sagte kein Wort.
    »Andererseits sehe ich
dir an, dass es nicht das ist, was du hören willst. So gern würde ich auch
vieles von dir erfahren. Wie es kommt, dass du hier bist. Warum du
Männerkleidung trägst. Wie du es geschafft hast, mich … Doch auch das ist es
nicht, was für dich jetzt zählt.« Er erhob sich, nur um sich gleich wieder zu
setzen. »Ich weiß, wie sehr ich dir wehgetan habe. Ich wusste es in dem
Augenblick, als ich es tat, aber – ich tat es trotzdem. Und jetzt bist du hier.
Den langen Weg. Allein, um mich zurückzugewinnen.«
    Seltsam erschrocken
stellte sie etwas fest, etwas, dessen sie sich jetzt erst wirklich bewusst
wurde. »Ich weiß nicht, ob ich hierherkam, um dich zurückzugewinnen. Vielleicht
bin ich bloß hier, um die Wahrheit herauszufinden.« Irgendwie ungewohnt hörte
sich ihre Stimme an, als würde sie einer Fremden gehören.
    »Die Wahrheit? Über die
Vorgänge in Teichdorf? Und die Männer, die dort einfielen? Dann hättest du dich
doch nicht …«
    »Die Wahrheit über dich,
Anselmo«, schnitt sie ihm leise das Wort ab. »Du hast etwas unendlich
Wertvolles zerstört.«
    »Alles hätte ganz anders
kommen sollen. Ich wollte nur ein paar Tage fortbleiben, um etwas Bestimmtes …«
Der Satz verlor sich im Zimmer. »Nur ein paar Tage. Dann wäre ich wieder bei
dir gewesen. Dann hätte ich dir alles erklärt.«
    »Darum geht es nicht«,
erwiderte Bernina. »Es geht darum, dass du mir nicht die Wahrheit anvertraut
hast. Und plötzlich warst du verschwunden. Aber nicht nur das. Es gab
Anzeichen, dass du schon vorher Geheimnisse vor mir hattest. Alles, was mir
blieb, war eine fahrig geschriebene Nachricht. Dabei wusste ich noch nicht
einmal, dass du schreiben und lesen kannst.« Sie befreite sich aus ihrer
Reglosigkeit und ließ sich neben ihm nieder, sodass sich ihre Arme berührten.
Ihr entging nicht, wie gut ihm das tat. »Für mich warst du mein Anselmo.
Anselmo, das Findelkind. Anselmo, der Gaukler. Mein Ehemann. Ein unbeschwerter
Mensch mit reinem Herzen. Glücklich. Doch inzwischen muss ich annehmen, dass du
nicht glück…«
    »Halt«, fiel er ihr ins
Wort. »Das darfst du niemals denken. Immer war ich glücklich mit dir, an jedem
einzelnen Tag. Aber es ist wahr: Ich war nie ein Findelkind gewesen. Das ist
ein Märchen. Eines, das ich so sehr gelebt habe, dass es für mich Wahrheit
wurde. Dann allerdings … Das Märchen fiel in sich zusammen, von einem Moment
auf den anderen.«
    »Und zwar damals, als
die Spanier nach Teichdorf

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