Die Sehnsucht der Krähentochter
haben.
Ihre ganze Familie …« Bernina verstummte.
»Ich kann mir
vorstellen, welche die Quelle solcher Geschichten ist.« Gelassen erwiderte
Anselmo ihren Blick. »Juan Alvarado. Schon lange treibt er dieses Spiel. Die
Alvarados sind am Ende. Seit etlichen Jahren hatten sie ihre Hände in allen
möglichen schlimmen Geschäften, bei denen es um viel Vermögen ging. Und bei
denen viel Blut floss. In Spanien, in den Niederlanden, in Baden und Bayern.
Sie betrogen, kauften Mörder, webten ihre Netze, unterhielten Verbindungen zu
hohen Herren, ehrenhaften wie unehrenhaften. Bis nach und nach die Wahrheit ans
Licht gelangte, bis einer nach dem anderen dieser Familie in Kerkern oder vor
dem Henker endete. Juan Alvarado ist derjenige, der als letzter dafür kämpft,
den Familienstern wieder zum Erstrahlen zu bringen. Als herauskam, dass er und
sein Bruder nichts als Betrüger und Verbrecher sind, flüchteten sie. Der eine
tauchte unter, der andere leider wieder auf. Nun setzt Juan alles daran, die
letzten Reste des Alvarado-Besitzes mit seinen Fingernägeln zusammenzukratzen.
Er will zu neuem Reichtum kommen, um so König Philipp unterstützen – und damit
in Gnaden wieder in die feine Gesellschaft aufgenommen zu werden.«
»Und diesen Reichtum
verspricht er sich hier zu holen?«
»Darauf hat er es schon
lange abgesehen. Er und sein Bruder. Deswegen kam es damals ja nur zur Heirat
mit einer Tochter der Familie Lobo. Eine würdevolle Familie, die ihren Besitz
ihrem Fleiß und Scharfsinn verdankte, nicht zahllosen Verbrechen.«
»Elena Lobo y Alvarado.«
»Ja, die Schwägerin
Juans, die Ehefrau seines Bruders. Ernesto Alvarado.« Anselmo nickte wieder.
»Juan hätte sie gern selbst geheiratet. Aber er musste seinem älteren Bruder
den Vortritt lassen. Nun betrachtet er es sozusagen als verdient, dass er sich
zumindest ihr Vermögen nimmt. Wie gesagt, seit Langem trachtet er danach. Als
Elena die wahren Absichten durchschaute und erkannte, dass Juan sogar Mörder
beauftragt hatte, um sie aus dem Weg zu räumen, war sie es, die ebenfalls die
Flucht antrat. Das war vor vielen Jahren. Heute ist diese Festung ihr letzter
Zufluchtsort.«
»Sie hat sehr schöne
Augen.«
Verwirrt sah Anselmo
auf. Dann lächelte er scheu. »Die Lobos haben Verwandtschaft in den
Niederlanden. Aus dieser Verbindung stammen, wenn du es so nennen willst, diese
blauen Augen.«
Bernina berührte kurz
seine Hand. »Ihr Sohn hat dieselben Augen.«
Abermals blickte er nur
vor sich hin. »Ja. Ich bin ihr Sohn. Der Sohn von Elena und Ernesto.
Aufgewachsen als Anselmo Alvarado. Heute jedoch bin ich bloß noch Anselmo.«
Bernina ließ ihm Zeit.
Ihm und ihr selbst. Regen trommelte ans Fenster, die Kerzenflamme flackerte.
Doch schließlich musste sie wieder das Wort an ihn richten: »Ich verstehe noch
nicht alles, doch immerhin einiges mehr. Auch dich kann ich nun besser
einschätzen, Anselmo. Aber trotz allem: Als du nach Karlsruhe aufgebrochen
bist, um, wie du glaubtest, deine todkranke Mutter ein letztes Mal zu sehen –
da hättest du mich zumindest in den Grund dieser Abreise einweihen können.«
Er schwieg.
»Wenigstens das hättest
du mir sagen können.«
Erst nach einer Weile
begann er wieder zu sprechen: »Ich rang mit mir, rang so sehr mit mir. Doch
dann schüttelte ich alle Zweifel, alle Gewissensbisse ab – und ich ging. Was
hätte ich dir sagen sollen? Wie hätte ich es dir sagen sollen? Pablo drängte
mich unaufhörlich. Er setzte mir zu, sagte, meiner Mutter ginge es sehr, sehr
schlecht. Also schob ich die Entscheidung, was ich dir erzählen sollte, einfach
auf.« Er seufzte. »Ich war so durcheinander. Ich dachte, alles würde
zusammenfallen, einstürzen. Mein neues Leben – kaputt gemacht durch mein altes
Leben, das plötzlich nach mir griff. Ich spürte, dass ich dir nicht nur einen
Teil meiner Vergangenheit anvertrauen konnte. Du hättest sofort durchschaut,
dass sich da irgendwo ein noch viel größeres Geheimnis im Verborgenen hält.«
»Allein dadurch, dass du
mir eine Nachricht geschrieben hast, war doch klar, dass du nicht der bist, den
du mir immer vorgespielt hattest.« Bernina betrachtete ihn. »Es war einfach
offensichtlich, dass da etwas nicht stimmte. Gaukler verfassen keine Briefe.
Nicht einmal kurze.«
Ein trauriges,
flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Das war mir natürlich bewusst.
Trotzdem schrieb ich dir. Einfach weil ich mir so schäbig vorkam, hinterließ
ich dir diese Nachricht. Der Versuch
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