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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Kopf.
    »Wir brachten ihn
hierher«, fuhr der Spanier fort, »auch das gebe ich zu. Aber hier entwischte er
uns.«
    »Wo ist er jetzt?«
    Ein vorsichtiges
Schulterzucken.
    Bernina trat einen
Schritt nach vorn. Das Ende der Muskete berührte fast die Brust des Mannes. »Wo
ist er jetzt?«
    »Ich weiß es nicht.«
Verzweiflung zuckte in seinen Augen. »Wahrscheinlich in der Lobo-Festung.«
    Also lebt er, atmete
Bernina erleichtert auf. Und mahnte sich doch, nicht zu vorschnell das zu
glauben, was sie glauben wollte. »Lobo-Festung? La visitación?« Die Landkarte
fügte sich kurz in Berninas Erinnerung zusammen.
    Er nickte.
    »Und was wolltet ihr von
Anselmo?«
    »Mein Vater hatte etwas
mit ihm vor.«
    »Wer ist dein Vater?«
    Der junge Mann deutete
hinter sich zum Gebäude. »Juan Alvarado.«
    »Was hatte er mit ihm
vor? Was?«
    »Er …«
    Und
plötzlich ging alles ganz schnell. Die Nerven der Magd spielten nicht mehr mit.
Sie rannte los, schreiend, wild mit den Armen in der Luft rudernd. Bernina sah
ihr hinterher und fühlte zugleich die bangen Blicke des Mannes auf sich. Die
Frau hatte fast schon die Villa erreicht.
    »Knie dich hin!«,
zischte Bernina dem Mann zu. »Und behalte die Hände über dem Kopf.« Sie
erkannte die Todesangst, die ihn ergriff. Aber er gehorchte. Seine Lider
senkten sich. Es flüsterte mit bebenden Lippen, betete vielleicht.
    Aus den Augenwinkeln
nahm Bernina wahr, dass mehrere bewaffnete Männer vor dem Portal auftauchten,
wo sie auf die immer noch kreischende Magd trafen, die in Berninas Richtung
wies.
    Bernina stürmte los.
Vorbei an den Stallungen, durch den Fluss. Hinter ihr ertönten Schüsse, doch
die Entfernung war zu groß. Jedenfalls noch. Sie rannte in den Wald und
gelangte zu der Stelle, wo sie ihre Stute angebunden hatte. Als sie sich in den
Sattel warf, hörte sie irgendwo in der Nähe aufgeregte Stimmen. Sie schlug dem
Pferd die Hacken in die Seiten.
    Ein weiterer Schuss erklang.
Und noch einer.
     
    *
     
    Die Gestalt näherte sich ihr mit schnellen Tippelschritten.
Ungelenk und leichtfüßig in einem. Bernina fühlte sich wie gelähmt, konnte nur
hilflos dem Winzling entgegenblicken. Sein Kopf wirkte im Vergleich zum
Oberkörper groß, das Haar stand ab, das Gesicht war rund. Gewitzte Augen
schimmerten darin.
    Endlich gelang es
Bernina, sich aus ihrer Starre zu befreien, sie ruderte mit den Armen, und in
dem Moment, als sie den Gnom erkannte, löste er sich in ein leeres Nichts auf.
    »Baldus!«
    Es war der Ruf ihrer
eigenen Stimme, der sie vollends wach machte. Sie starrte in den Morgen, der
sich mit diffusem Licht gegen das Dunkel der Nacht heranwälzte. Es hatte nicht
mehr geregnet, doch die Luft triefte von kalter Nässe. Der Herbst hatte sich durchgesetzt.
    Bernina wickelte sich
aus der Decke, ihre Hände waren klamm. Vor ihrem inneren Auge flackerten noch
einmal kurz die schemenhaften Umrisse des Knechtes. Lange hatte sie ihn aus
ihren Gedanken verbannt, war darin einfach kein Platz mehr für den Gnom
gewesen. Sie hatte sich nie bei ihm bedanken, ihn nie fragen können, wie er an
den Schlüssel gekommen war, der ihre Rettung aus dem Teichdorfer Turmgefängnis
bedeutete. Wo mochte sich Baldus jetzt befinden? Wie mochte es ihm ergangen
sein?
    Sie stand neben der
Stute und tätschelte dem zähen, tapferen Geschöpf den Hals. Vor Kälte
erschauerte sie. Vom Boden hob sie die Decke auf, um sie sich über die
Schultern zu legen. Sie hatte wiederum Zeit eingebüßt, aber nachdem sie den
Männern entkommen war, die ihr zu Fuß noch ein ganzes Stück durch den Wald
hinterhergehetzt waren, hatte sie einen recht weiten Weg zurückgelegt.
Irgendwann hatte Bernina einfach ein wenig Ruhe gebraucht. Nicht nur sie, die
Stute ebenfalls. Ihre Essensvorräte, mit denen sie sich im Lager von Norbys
kleiner Armee ausgestattet hatte, waren aufgebraucht. Ohne einen Bissen setzte
sie ihren Weg fort. Nicht nur von der Kühle des beginnenden Morgens
durchgeschüttelt, auch von dieser Ungewissheit, die sie weiterhin beherrschte.
Wenn der junge Spanier in seiner Furcht die Wahrheit gesagt hatte, dann war
Anselmo ihm und den anderen also entwischt. Doch wo war er inzwischen? Wohin
hatte ihn sein Weg geführt? Befand er sich auf dem Rückweg – zurück nach Hause?
Nach Teichdorf? Bernina wurde es ganz unwohl bei diesem Gedanken. Oder war es
doch eher so, dass Anselmo Zuflucht in der Festung gesucht hatte? La
visitación. Als Bernina in den Sattel stieg, war es nicht nur Anselmos Name,
der sie

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