Die Sehnsucht der Krähentochter
beschäftigte. Auch der Name einer Frau, einer Unbekannten. Isabella.
Sie trieb die Stute an
und ritt einem Felsgrat entgegen, von dem sie hoffte, dass es jener war, der
auf Juan Alvarados Landkarte eingezeichnet worden war. Es blieb dabei: so viele
Fragen, so groß diese Ungewissheit. Ein bissiger Wind umfing ihre einsame
Gestalt, und ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Wann würde sie endlich
mehr erfahren? Würde sie überhaupt etwas erfahren?
Nachdem
Bernina den Grat aus nacktem Felsgestein, das die Hufschläge gespenstisch
hallen ließ, überwunden hatte, erreichte sie ein unwegsames Gelände mit vielen
tückischen Bodenwellen. Höher hinauf ging es, Wiesen wechselten sich mit
Waldstücken ab, keine Siedlungen, keine Reisenden, niemand. Bernina war
scheinbar allein auf der Welt.
Über ihr ein bleierner
Himmel, der das ohnehin schwache Tageslicht beinahe zu ersticken schien.
Zwischen eng stehenden dunklen Bäumen, die sie auf verrückte Weise an den
Schwarzwald erinnerten, ritt sie hindurch, den Blick in die nach wie vor
unübersichtliche Landschaft gebohrt. Sie erreichte einen Felsvorsprung, und vor
ihren Augen, zwar noch etwas entfernt, nahm unvermittelt ein Bauwerk Gestalt
an, das sich an einen Berg quetschte, als wolle es sein Inneres aushöhlen. Ein
sonderbares Bauwerk, hell, wie aus Wolken, aus versteinerten Wolken, eine Festung,
wie aus längst vergangenen Zeiten, umgeben von mächtigem, quadratischem
Mauerwerk, in das, einem schwarzen Schlund gleich, das schmiedeeiserne Tor
eingelassen war. La visitación.
Hart riss Bernina an den
Zügeln, und das Pferd schnaubte. Sie glitt aus dem Sattel und führte die Stute
seitlich an dem Felsvorsprung vorbei in die Tiefe. Die Bäume wuchsen
spärlicher, doch boten sie ihr zumindest noch etwas Schutz, um näher an die
Festung heranzukommen. Wie schon beim Erreichen der Villa ließ sie das Pferd zurück,
sorgfältig an einem Baum festgebunden.
Als erste Tropfen aus
dem nach wie vor grauen Himmel fielen, lag Bernina flach im Gras, nur noch 100
Meter von der Festung entfernt. Auf der Schutzmauer patrouillierten Wachmänner.
Vom Gebäude im Inneren des unüberwindlichen Ringes aus Stein waren lediglich
ein angebauter Turm und der obere Teil eines Schilfdaches auszumachen, dessen
Farbe mit der Umgebung ebenso verschmolz wie das Mauerwerk. Auf dem Dach ein
Mast mit einer Flagge: auf strahlend rotem Grund der Kopf eines Wolfes. Oder
einer Wölfin.
Ihr war selbst nicht
klar, warum sie zögerte. Diese Festung stand nicht unter dem Zeichen der Rose,
Bernina sollte dort also keinerlei Gefahr drohen … Aber dennoch hielt sie es
für besser, sich fürs Erste ein Bild zu machen. Der Streit der Alvarados und
der Lobos interessierte sie im Grunde nicht. Was sie in Atem hielt, war
Anselmo. Oder seine Verbindung zu diesen Familien. Was steckte hinter all dem?
Warum war ausgerechnet Anselmo gefangen genommen worden? Ein Mann, der auf dem
abgelegenen Petersthal-Hof ein ruhiges, friedliebendes Leben führte. Der davor
jahrelang mit harmlosen Gauklern durch die Lande gezogen war. Der ein
Findelkind gewesen war. Bernina wischte sich mit der Hand den Staub aus dem
Gesicht. Vielleicht nicht nur Staub, vielleicht auch eine versteckte Träne.
»Anselmo«, sagte sie so leise, dass sie selbst ihre Stimme kaum hören konnte.
Als würde schon der Klang seines Namens Geheimnisse offenbaren. Geheimnisse,
die nicht zu dem Mann passten, mit dem sie ihr Leben geteilt hatte.
Niemand näherte sich der
Festung, niemand verließ sie. Eine Morgenstunde war vorübergezogen, der Regen
hatte sich aufgelöst. Die Luft war nicht mehr so kalt wie noch in der Nacht. Es
half alles nichts: Wenn sie wirklich etwas herausfinden wollte, dann nützte es
nichts, weiterhin Vorsicht walten zu lassen. Bernina wusste das nur zu gut. Mit
einem knappen Seufzer kam sie auf die Beine. Sie würde zu der Festung reiten.
Jetzt. Was immer sie dort auch erwarten mochte. Fand sich hier keine Spur, war
sie am Ende angelangt. Am Ende einer langen, langen Fährte. Einer Fährte, die
ohnehin niemals sehr vielversprechend gewesen war. Nichts weiter als der
einzige Strohhalm, an den Bernina sich hatte klammern können.
Etwas verwundert holte
sie sich aus ihren Gedanken. Der Baum, an dem sie das Pferd festgemacht hatte –
der Ast daran war frei. Ohne die Stute. Hatte sich das Tier irgendwie befreit?
Gewiss nicht!, gab sich Bernina lautlos die Antwort. Das hatte es noch nie
getan, zudem war es müde gewesen von dem anstrengenden
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