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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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hatte. Die Truppenstärke,
die Bewaffnung, die Unmittelbarkeit der bevorstehenden Attacke. Die Dame blieb
weiterhin völlig ruhig, brachte dann aber ihre tiefe Dankbarkeit zum Ausdruck –
offenbar war man in dieser Festung über den Gegner durchaus unterrichtet, nicht
jedoch so detailliert. Berninas Vermutung mit den berittenen Spähern traf ins
Schwarze, wie sie bei einer kurzen Nachfrage herausfand. Aber erst ihre
eigenen, wesentlich genaueren Informationen bekräftigten Elena darin, die Vorkehrungen
für die Verteidigung mit noch größerer Präzision anzugehen. Und noch einmal
sprach die Spanierin aus, wie dankbar sie Bernina war.
    Bei
diesen Worten musste Bernina unwillkürlich an Nils Norby denken. Obwohl ihm
bewusst war, dass ihr Auftauchen in der Festung seine Erfolgschancen
beträchtlich verringern konnten, hatte er sie ziehen lassen. Rasch verdrängte
sie die Erinnerung an jenen Moment, in dem sie im Straßengewirr Valencias zum
letzten Mal in die Augen des Schweden geblickt hatte.
    Als
hätte Elena auf übernatürliche Weise ihre Gedanken erahnt, erkundigte sich die
Wölfin auf einmal nach dem Anführer der Männer. Bernina räusperte sich, nannte
dann aber gleich seinen Namen, mit ganz nüchternem Tonfall, wie wenn es sich um
einen ihr völlig Fremden handeln würde. »Nils Norby?«, wiederholte Elena mit
ihrem Akzent. »Hhm, nie gehört.«
    Unzählige
kleine Gerichte, die von den Dienern serviert wurden, lenkten die drei von
ihrem Gespräch ab, und Bernina war, wie sie sich eingestand, froh über diese
Ablenkung.
    »Wir
hoffen«, sagte Elena, »dass es dir schmeckt. Und dass du den groben Empfang auf
unserer Festung mit diesem Essen zumindest ein wenig verdrängen wirst.« Von
Anfang an hatte die Frau Bernina mit dem zwanglosen Du angeredet. »Du musst
verstehen: Meine Männer hielten dich für eine Spionin. Oder für was auch immer.
Zum Glück konnte alles aufgeklärt werden.«
    »Gerade noch
rechtzeitig«, bemerkte Bernina nicht ohne Schärfe.
    »Aber nein, kein
Gedanke«, erwiderte Elena schnell und unbeeindruckt. »Zum Äußersten wäre es
keinesfalls gekommen. Wir sind keine Mörder. Es war der letzte Versuch meines
Offiziers festzustellen, ob du nicht doch unserer Sprache mächtig bist. Hätte
es sich bei dir wirklich um eine Spionin oder Diebin gehandelt, wärst du bei
nächster Gelegenheit den Behörden übergeben worden. Kein Tropfen Blut wäre
geflossen.«
    Anselmo
bestätigte diese Worte mit einem überzeugenden Nicken, und so beließ es Bernina
dabei. Ebenso wie ihr Mann und seine Mutter widmete sie sich den
Köstlichkeiten, die ihr so fremd waren wie dieser Ort: mit Paprika gefüllte
Oliven, Anchovis, geschälte Feigen und Austern. Artischocken, Garnelen und
Hummerscheren, Auberginen, Kabeljau, geröstete Nüsse und allerlei Obst.
    Doch
so stark das Neue ihre Aufmerksamkeit einforderte, so unaufhaltsam flüchteten
Berninas Gedanken immer wieder aus diesem Salon, zurück in eine Vergangenheit,
zu der sie nicht gehörte, die wie hinter Nebelschleiern vor ihren Augen
entstand. Sie sah einen 16-Jährigen, der den Auseinandersetzungen in seiner
Familie hilflos gegenüberstand und der zum Vater kein gutes, dafür aber zur
Mutter ein umso innigeres Verhältnis hatte. Immer wieder versuchte Bernina sich
seit letzter Nacht jenen Moment vorzustellen, als das Anwesen in Valencia, in
dem der 16-jährige Anselmo mit seinen Eltern Ernesto und Elena lebte, von einem
Beamten und Soldaten des Königs aufgesucht wurden. Der Beamte beabsichtigte
Nachforschungen anzustellen, denn endlich war man dahintergekommen, dass
Ernesto Alvarado hinter einer Fassade aus Ehrenhaftigkeit allerlei
verbrecherischen Machenschaften nachging. Die Soldaten warteten im Foyer,
während sich der Beamte in einem Raum mit der Mutter befand. Vorwürfe,
Anfeindungen, unverstellte Drohungen gegen Elena, harte Worte, denen der Junge
durch das Holz der Türe lauschte. Kurz zuvor die Flucht seines Vaters, jetzt
die Furcht seiner Mutter, und dann dieser Augenblick, als der Beamte nach den
Soldaten rief. Nicht um die Dame des Hauses zu verhaften und abzuführen, wie
der Junge annahm, sondern lediglich um die einzelnen Zimmer durchsuchen zu
lassen. Anselmo stürmte in den Raum, schrie auf den Beamten ein, der ihn
ohrfeigte. Es kam zu einem Handgemenge, der vornehme Herr hielt plötzlich einen
Dolch in der Hand. Doch der 16-Jährige war geschickter, und die tödliche Klinge
fand den edlen Wams des Besuchers – genau dann, als die ersten

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