Die Sehnsucht der Krähentochter
Glücks.
So
viel hatte Anselmo zu berichten gehabt, dass es Bernina ihrerseits vorgezogen
hatte, nicht alles von ihren eigenen Erlebnissen preiszugeben. Es war zu viel
vorgefallen, viel zu viel, um es in einer einzigen Nacht erzählen zu können. So
erfuhr Anselmo lediglich, dass sie durch Zufall von seiner mysteriösen
Gefangennahme erfahren hatte und sie sich mit einer Mischung aus Verzweiflung
und Verrücktheit jener Armee angeschlossen hatte, von der sich schließlich
herausstellte, dass ihr Ziel diese Festung hier war: La visitación. Wie
beeindruckt Anselmo war, wie hingerissen. »Dein Mut ist grenzenlos«, sagte er.
»Dein Herz ist so stark.«
Nils
Norby allerdings erwähnte Bernina mit keinem Wort. Noch nicht, sagte sie sich.
Noch nicht.
Nun
war bereits die Mittagszeit erreicht. Bernina war in ein Gewand aus eleganten
Stoffen gehüllt, ähnlich jenem, das Elena am Tag zuvor getragen hatte. Es war
irritierend, den Degen plötzlich nicht mehr an ihrer Seite zu fühlen. Anselmo
ging neben ihr einen langen Flur entlang, bekleidet mit einer spanischen Hose,
feinem Wams mit Stehkragen und einem Barett, das schräg auf seinem schwarzen
Haarschopf saß. So vertraut war er ihr, und dennoch hatte sie dieses glimmende
Gefühl der Fremdheit noch nicht überwunden. Sie waren auf dem Weg zu einem
Salon, in dem eine Mahlzeit eingenommen werden sollte. Innerhalb des Mauerwerks
deutete nichts auf die Geschäftigkeit hin, mit der man sich auf einen Angriff
vorbereitete – nichts auf die drohende Gefahr. Diener mit weitärmeligen weißen
Hemden, gebauschten Pluderhosen und Schnabelschuhen, an deren Spitzen winzige
Glöckchen hingen, huschten umher. Durch ein vorgelagertes Entrée mit
Ledersesseln gelangten sie in den Salon. Schwere Teppiche dämpften die
Schritte. Blumenarrangements verbreiteten exotische Düfte. In jeder Ecke hohe
Ständer mit vielen Kerzen. Darüber waren in den Stuck der Decke Spiegel
eingefasst, die das Licht der Flammen zurückwarfen und so für mehr Helligkeit
im Raum sorgten. Gemälde mit goldenen Rahmen, die die vier Jahreszeiten
wiedergaben. Verschwenderisch die Silber- und Goldapplikationen, noch mehr
Spiegel, diese makellos schimmernden Insignien des Reichtums. Handgemalte,
poliert aussehende Wandfliesen und zwei bis zum Boden herabreichende
Fenstertüren, vor denen Gardinen hingen. Bei jeder Deckensäule stand anstelle
des gewöhnlichen Spucknapfes eine Messingschale, mit weißem Sand gefüllt.
Nicht
nur die Blumen, auch die Herrin all dieses Glanzes verströmte einen vornehmen
Duft. Sie erwartete ihre Gäste inmitten des Salons, wiederum ein Vorbild an
Eleganz. In der Luft um sie herum schwebte das Aroma jenes Wässerchens, das
Bernina zuletzt an einer Hure namens Irmtraud gerochen hatte. Auf Stühlen,
bezogen mit blassblauer Seide, nahm man an einer bereits gedeckten Tafel Platz
– am Kopf Elena Isabella Lobo y Alvarado, deren Maske aus Strenge und Härte
sich verflüchtigt hatte. Größte Mühe gab sie sich, Freundlichkeit zu zeigen.
Nicht nur gegenüber Anselmo, der rechts von ihr saß, sondern vor allem
gegenüber Bernina, die den Platz links von ihr eingenommen hatte und der zu
Ehren die Sprache des Kaiserreichs gesprochen wurde. Elena hatte fast keinen
Akzent, und Anselmo erläuterte, dass die Mitglieder ihrer Familie immer schon
die besten Schulen besucht hätten und neben der Muttersprache auch in Latein,
Griechisch, Französisch und Deutsch unterrichtet wurden. Bernina spürte, wie
interessiert Elena an ihr war, ja sogar Neugier für sie empfand – und bereits
vieles über sie und den Petersthal-Hof wusste. In den zurückliegenden Tagen
musste Anselmo wohl umfassend berichtet haben. Sie näherten sich an,
Schwiegertochter und Schwiegermutter, zwei Frauen, die urplötzlich, völlig
unvorbereitet aufeinander getroffen waren. Auch der Name Juan Alvarados fiel,
und nach einigen Erläuterungen Elenas wurde immer klarer, dass dieser Mann von
abgrundtiefer Bösartigkeit erfüllt war. Die Rose, die in Berninas Heimat so
viel Angst verbreitete, galt auch in Spanien als ein Zeichen, das für Unheil
stand. Nur das Thema Ernesto Alvarado war eines, das man umging, an das hier
niemand erinnert werden wollte.
Die
drei unterhielten sich mit leisen Stimmen, und die beiden Frauen versuchten,
sich kennenzulernen. Bernina wurde höflich aufgefordert, von den Männern zu
berichten, mit denen sie in dieses Land gekommen war. Sie wiederholte für Elena
das, was sie schon am Vorabend Anselmo geschildert
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