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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Nicht nur, dass das alles geschieht – dass man einfach nur tatenlos
herumstehen und nicht eingreifen kann.« Die vielen Degenstunden mit Meissner
kamen ihr wieder in den Sinn. Sie fühlte ein Kribbeln in ihrer rechten Hand,
als drängte es ihre Finger zu dem Degengriff. Zögernd trat sie zu dem Sessel
mit der Waffe. Die Klinge funkelte ihr entgegen.
    »Denke nicht einmal
daran, Bernina.« Scharf stach die Stimme von Anselmos Mutter in ihr
Bewusstsein. »Was immer du auf dem Weg hierher getan und gelernt haben magst –
meine Schwiegertochter werde ich nicht in den Kampf schicken. Und wenn ich dich
eigenhändig hier festbinden müsste.«
    Sie hatte ihre Worte mit
so viel Autorität vorgebracht, dass sich Bernina schließlich wieder abwandte
und das Blitzen der Klinge ignorierte. »Diese Tatenlosigkeit geht dennoch fast
über meine Kräfte«, sagte sie nur, und die Ohmacht, die in ihrer Stimme
aufklang, gefiel ihr keineswegs.
    Plötzlich das Dröhnen
eines Lärms, der nahe bei ihnen ertönte. Zersplitterndes Holz, Schreie, das
Trampeln von Stiefeln auf einer steinernen Treppe.
    »Sie sind im Turm!«
Elena klang nicht ängstlich, auch jetzt noch nicht, und doch war ein Beben in
diesen Worten gewesen. Sie erhob sich vom Sessel. Die Blicke beider Frauen
hasteten zur Tür des Zimmers.
    »Ich werde den Riegel
vorschieben«, entschied Bernina.
    Aber Elenas Hand auf
ihrem Ellbogen stoppte sie. »Nein, Bernina. Juan Alvarado kann mich angreifen,
er kann mich sogar auslöschen. Aber er wird mich nicht dazu bringen, mich in
meinen eigenen vier Wänden einzuschließen wie ein kleines Mädchen. Und außerdem
– das Holz würde diese Kerle kaum aufhalten. Uns bleibt nichts anderes übrig,
als dem, was uns erwartet, mit Würde entgegenzusehen.«
    Die Hand verschwand von
Berninas Arm. Nebeneinander standen die Frauen da, nach wie vor die Tür im
Blick.
    Der Krach wurde lauter,
kam näher. Neuerliche Schreie. Das Klirren der Degenklingen. Und dann wurde die
Tür von außen aufgerissen.
    Während
die Spanierin ganz still stand, zuckte Bernina zusammen – erschrocken,
erleichtert, alles auf einmal. Anselmo stürmte hinein, sein Wams von
Blutspritzern verschmiert. In den Händen hielt er die Pistolen, jedoch verkehrt
herum. Von ihren Griffen tropfte ebenfalls Blut. Also war ihm nach dem Abfeuern
keine Gelegenheit zum Nachladen geblieben, er musste die Waffen wie Knüppel
benutzen. Schweiß glänzte auf seiner Stirn, der wilde, verzweifelte Ausdruck
seiner Augen ließ erahnen, was er in der kurzen Zeit seit dem Verlassen des
Zimmers erlebt haben musste.
    »Ihr
seid hier nicht mehr sicher!«, rief er. »Los! Wir versuchen, die hintere Treppe
zu erreichen.«
    »Ich
flüchte nicht!«, widersetzte sich Elena starrsinnig.
    Anselmo
steckte eine Pistole weg, ergriff das Handgelenk seiner Mutter und zog sie
hinter sich ins enge Treppenhaus. Bernina folgte ihnen dicht auf – und hatte
vorher noch, fast unbewusst, ihren Degen gepackt. Von unten hörten sie die
Männer kämpfen. Sie rannten die Stufen hinauf und in einen Durchgang, der in
einen Flur des Hauptgebäudes führte. »Wie sieht es draußen aus?«, rief Bernina
Anselmo zu.
    »Ich weiß es nicht. Ich
habe nur Blut gesehen und um mein Leben gekämpft.«
    Der Flur beschrieb eine
Kurve, der sie folgten – bloß um augenblicklich wie versteinert innezuhalten.
Ein Soldat. Mit einem roten Umhang. Aus dem weißen, hoch gezwirbelten
Schnurrbart perlte Schweiß. Anselmo stellte sich erst schützend vor die Frauen,
dann stürmte er auf den Mann los, die Pistole wie eine Keule erhoben. Der
andere wich geschickt aus und versetzte ihm einen harten Ellbogenstoß, der ihn
auf den Teppich landen ließ.
    Bevor der Soldat mit dem
Degen zum tödlichen Hieb ausholen konnte, war Bernina da, ihrerseits den Degen
kampfbereit in der Hand. Die Klingen kreuzten sich, und für Bernina hatte es
etwas Unwirkliches, so unvermutet gegen den Mann zu kämpfen, der ihr alles
beigebracht hatte – ihm auf Leben und Tod zu begegnen.
    In ihrem feinen Gewand
hatte Feldwebel Meissner sie nicht erkannt, er war nur sichtlich überrascht,
wie gut sich diese Frau schlug. Wahrscheinlich hätte es ihm die Sprache
verschlagen, wenn er gewusst hätte, dass er es hier mit niemand anderem als
seinem Schüler Falk zu tun hatte.
    Nach
und nach gelang es Meissner, sie zur Wand zurückzutreiben. Irgendwo in ihrem
Kopf war seine Stimme: Niemals auf die Waffe des Gegenübers achten. Sondern nur
auf seine Augen. Die Augen verraten dir

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