Die Sehnsucht der Krähentochter
Wort, »das bist du nicht. Ich verstehe, dass ihr erst einmal für
euch sein möchtet.« Lächelnd verließ sie wieder den Raum.
»Anselmo, ich muss mit
dir sprechen.«
Er nickte. »Ich spürte
es die ganze Zeit schon.«
Langsam begann Bernina.
Mit dem Tag, als Anselmo verschwand. Die Einzelheiten wühlten sich an die
Oberfläche. Die Rücksichtslosigkeit der Männer mit der Rose. Die Niedertracht
Egidius Blums. Entsetzen spiegelte sich auf Anselmos Gesicht wider. Unbändiger
Zorn brachte seine Lippen zum Beben, als Bernina auf das Schicksal der
Krähenfrau zu sprechen kam.
»Sie ist tot?«
Fassungslosigkeit in seinen Worten.
»Ja, das ist sie. Aber
so verrückt es klingt: Irgendwie ist sie auch noch bei mir. Manchmal spüre ich
ganz stark ihre Anwesenheit.«
»All das tut mir so
leid, Bernina.«
Sie sah ihm an, dass er
es ernst meinte. Und dass das schlechte Gewissen, das er seit seinem
Verschwinden aus Teichdorf mit sich trug, noch größer wurde.
»Mein Gott, wie sehr ich
dich im Stich gelassen habe. Du hättest …« Er verstummte.
»Du konntest ja nicht
wissen, wie sich die Dinge in Teichdorf entwickeln würden.«
»Wissen nicht. Aber ich
ahnte es …« Anselmo senkte den Blick. »Das kann ich nie wieder gutmachen.« Er
stand auf und starrte auf die Wand.
»Anselmo …«
»Das kann ich nie wieder
gutmachen.«
»Anselmo …«
Kurz darauf ließ er
Bernina allein, damit sie sich noch etwas erholen konnte. Gedankenschwer trat
sie ans Fenster. Überall in der Festung herrschte bittere Umtriebigkeit.
Verletzte wurden versorgt. Die Leichen waren wohl schon fortgeschafft worden.
Doch trotz der Schrecken dieses Tages war auch ein Gefühl der Erleichterung
spürbar. Bernina allerdings dachte an Nils Norby. Daran, dass sie Anselmo
endlich von ihm erzählen musste. Daran, dass nicht nur ihr Mann von einem
schlechten Gewissen belastet wurde.
Unbewusst kam ihr die
Schönheit des Salons in den Sinn. Ausgerechnet dort befanden sich jetzt Norby
und der kleine Rest der Armee der Unsichtbaren. Auf was für einen Wahnsinn sich
diese Männer eingelassen hatten. Welch langer mühevoller Weg, nur um dasselbe
vorzufinden wie in der Heimat – Gewalt und Blut, das Gefühl, zu den Verlierern
des Lebens zu zählen. Welche Gedanken mochten dem Schweden durch den Kopf
gehen? Er hatte Bernina zum Duell gefordert, halb im Scherz, halb in kaltem
Ernst. Dann wiederum hatte er sie verschont, ebenso ihren Ehemann und die
Besitzerin der Festung, jene Wölfin, die seine Feindin war. Dieser Mann …
Dieser Mann und seine Absichten und Ziele. Wonach mochte er sich in
Wirklichkeit sehnen? Er war so rätselhaft.
Auf den Innenhof tat
sich etwas, und sofort riss sich Bernina aus ihren Grübeleien. Die Gefangenen.
Einer nach dem anderen, die Hände auf den Rücken gefesselt, durch Ketten an den
Fußgelenken jeweils mit dem Vorder- und Hintermann verbunden. Die roten Umhänge
bestanden bloß noch aus Fetzen. Am Kopf der schweigenden Schlange: Norby.
Aufmerksam beäugt von den nach wie vor schwer bewaffneten Soldaten der Wölfin
marschierten sie Schritt für Schritt über den Platz hinweg auf das Tor zu. Auf
dem Weg in dieses Land hatte Bernina jeden einzelnen von ihnen kennengelernt.
Ehemalige Soldaten, Gescheiterte, Verlorene. Unsichtbare, wie Norby sie nannte.
Wie gewissenlose Verbrecher allerdings waren sie Bernina niemals vorgekommen.
Außer dem Rasseln der Ketten war nichts zu hören, eine geisterhafte Szenerie,
von der untergehenden Sonne in düsteres Licht getaucht. Bernina verspürte
unwillkürlich ein kaltes Erschauern.
Gleich darauf erschien
der Offizier, der, wie Bernina inzwischen wusste, Padilla hieß. Ihm folgten
Elena und Anselmo. Unter den Blicken der drei näherte sich die Schlange der
Geschlagenen dem Tor, das sogleich geöffnet wurde. Die Kälte in Bernina wurde
immer stärker, einnehmender. Was sie sah, löste qualvolle Erinnerungen aus. War
das eine Prozession des Todes? Wie in Teichdorf, als die Scheiterhaufen
brannten? Sie zögerte keinen Moment länger.
Die Flure des Gebäudes
schienen kein Ende zu nehmen. Bernina hatte den Eindruck, nie in ihrem Leben so
schnell gerannt zu sein. Ihre Schritte hallten laut und fremd in ihren Ohren
nach, doch das Eingangsportal kam einfach nicht in Sicht. Sie schien jeden
Herzschlag, jeden Atemzug viel deutlicher wahrzunehmen als jemals sonst.
Endlich – sie war da. Der Platz empfing sie mit einer neuen Welle dieses
eigenartigen, langsam sterbenden Lichts. Alle Augen richteten sich
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