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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Soldaten den
Raum betraten. Der Junge rannte davon, erst vom Grundstück, dann aus der Stadt.
Zunächst hielt er sich noch in der Nähe Valencias auf, in seiner Abwesenheit
allerdings wurde er als Mörder verurteilt. Man suchte nach ihm, und einmal
spürte man ihn fast auf. Anselmo entkam mit knapper Not, und er wusste, dass
selbst die Grenzen Spaniens zu eng für ihn wurden. Er verließ seine Heimat,
ohne seine Mutter noch einmal gesehen zu haben, und er schwor sich, nie wieder
eine Waffe zur Hand zu nehmen. Eine Gauklertruppe nahm ihn auf, brachte ihm
Jonglieren, Seiltanz, Stelzenlauf und vieles mehr bei. Im Land seiner Eltern
ein flüchtiger Mörder, beschloss er, ein neues Leben zu beginnen. Ein Leben
ohne Heimat und Vermögen, jedoch eines in Freiheit. Die Welt sog ihn auf, trieb
ihn immer weiter fort. So wurde aus Anselmo, dem Sohn von Ernesto und Elena
Alvarado, ein armer Gaukler ohne Familiennamen.
    »Ein
einziges Missverständnis hat dein Leben auf den Kopf gestellt«, hatte ihm
Bernina am Vorabend zugeflüstert. »Hättest du die Absicht des Beamten nicht
falsch verstanden, dann hätte sich alles wahrscheinlich …«
    »Ja,
alles wäre anders verlaufen. Aber ohne dieses Missverständnis wären auch wir
uns niemals begegnet. Das Schicksal ist etwas, das niemand erfassen oder
durchschauen kann. Manchmal scheint es sich einen bösen Scherz mit uns zu
erlauben, dann wieder …« Noch während er seine Worte einfach verklingen ließ,
war Bernina eingeschlafen, all das Erzählte in sich aufnehmend und doch den
Moment ihrer nicht mehr erwarteten Zweisamkeit auskostend.
    Erst das Eintreten des
Offiziers, den sie gestern in der Gefängniszelle zum ersten Mal gesehen hatte,
brachte Bernina zurück in das unmittelbare Jetzt des Salons, inmitten seiner
vielfältigen Düfte und Aromen. Mit schneidigem Schritt näherte sich der Mann
der Tafel, um vor Elena zu salutieren wie vor einem General. Ganz kurz sein
Bericht, noch kürzer die Anweisung der Dame, die ihn sofort wieder davoneilen
ließ.
    Elena und Anselmo
wechselten einen tiefen Blick.
    »Was ist los?«, entfuhr
es Bernina.
    Anselmo langte über den
Tisch hinweg und ergriff ihre Hand. Aber es war seine Mutter, die sprach: »Nun
ist es soweit, Bernina. Die Soldaten der Alvarado-Rose. Sie sind da.« Nüchtern,
geradezu gleichmütig, wie sie das sagte.
    »Du meinst …« Bernina
beendete den Satz nicht.
    »Ja.« Anselmo nickte ihr
mit ernstem Ausdruck zu. »Der Angriff wird jeden Moment beginnen.«
    Oft hatte sich Bernina
gefragt, ob es denn keine Möglichkeit gäbe, den Wahnsinn zu verhindern. Doch
schon von Anfang hatte sie in ihrem Innersten gespürt, dass das, was jetzt kam,
so unvermeidlich war wie die Nacht, die auf den Tag folgte.
    »Die Rose und die
Wölfin«, fügte Anselmos Mutter unverändert gleichmütig hinzu, und ihr Blick
verlor sich irgendwo im Nichts. »Eine von beiden wird heute für immer
untergehen.«

Kapitel
6 Der Weg zurück ins Dunkel
     
    Der Himmel klebte so tief über dem Mast, dass die schillernde
Flagge mit dem Wolfskopf wie ein Blutfleck, wie eine Wunde im endlosen
bleiernen Grau wirkte. Ein beständiger Wind riss an dem Stoff, franste seine
zerschlissenen Ränder weiter aus. Nur das Rauschen der Böen war zu hören,
ansonsten herrschte eine unheimliche Stille, die kommendes Unheil nur umso
sicherer erscheinen ließ. Nebelfetzen schwebten dicht über der Erde,
erschwerten die Sicht. Mitten hinein in diese Ruhe erklang Flügelschlag, und
auf dem hellen Gemäuer erschienen die dunklen, zuckenden Flecken einer Schar
Vögel. Vom Fenster im dritten Stock eines Turmes sah Bernina die Krähen, die
einen vagen Kreis beschrieben, bevor die Himmelsdecke sie verschluckte. Der
viereckige, von einer mehrfach geschwungenen Haube bekrönte Turm schloss sich
an den Westflügel des Hauptgebäudes an. Schon bei ihrem allerersten Blick auf
die Festung war er Bernina aufgefallen.
    Immer noch kein Schuss,
kein Trompetensignal, kein gebrüllter Befehl. Nichts von jenen Lauten, mit
denen Schlachten und Gewalt für gewöhnlich ihren Anfang nahmen. Bernina ließ
den Blick erneut schweifen, über die Mauer hinweg, in die Weite der Landschaft.
In Gedanken stellte sie sich Nils Norby vor, der sich irgendwo dort im
Verborgenen aufhalten musste. Mit seiner Armee aus Unsichtbaren – offenbar
waren sie das tatsächlich.
    Langsam drehte sie sich
um, und der teure Prunk des Turmzimmers schien sie beinahe zu erdrücken.
Polster, Tischchen, Kerzenständer, Spiegel. Der

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