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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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der
wundervollen Illusion hinzugeben, alles wäre bloß ein riesiges Knäuel aus
wirren Träumen gewesen. Diese Illusion, dass sie beide noch unbehelligt auf dem
Petersthal-Hof leben würden und die Fremden mit den schwarzen Augen und roten
Umhängen niemals den Weg nach Teichdorf eingeschlagen hätten. Und die Krähenfrau
noch am Leben wäre.
    »Bernina«, sagte er
leise.
    Sie lag auf dem großen
Himmelbett, in dem sie die letzte Nacht verbracht hatte. Auf dem Bettrand,
dicht bei ihr, saß Anselmo, seine Hand auf ihrer Stirn, in ihrem Haar. Den vom
Kampf blutverdreckten Wams trug er nicht mehr.
    Voller Erleichterung
blickte sie zu ihm auf. »Mein Gott, dir ist nichts passiert. Ich hatte solche
Angst um dich.«
    »Und ich um dich.«
    »Die Schlacht ist
vorüber?«
    »Ja, sie war es schon
fast, als wir diesen Flur entlangliefen.«
    »Sind wir Gefangene?«
    Er lächelte. »Ganz und
gar nicht. Die Wölfin hat die Rose bezwungen. Der Sieg war in großer Gefahr,
aber letztendlich war unsere Übermacht doch ausschlaggebend. So geschickt
unsere Gegner auch vorgingen  – am Ende setzte sich die Gerechtigkeit durch.«
    »Deine Mutter?«
    »Sie ist wohlauf.«
Anselmo richtete sich ein wenig auf. »Ganz im Gegensatz zu meinem Vetter: Pablo
starb beim Sturm auf die Festung. Überhaupt haben nur wenige Angreifer überlebt
– weniger als ein Dutzend.«
    »Und dein Onkel?«, wollte
Bernina sofort wissen, obwohl sich jemand anderes in ihre Gedanken drängte.
    »Juan war immer schon
ein Feigling. Er kämpfte natürlich nicht in vorderster Reihe und entkam mit ein
paar Handlangern. Aber zu befürchten ist von ihm nichts mehr. Da bin ich mir
sicher.« Er ergriff ihre Hand. »Nach deinem Duell auf dem Flur dauerte es nicht
mehr lange, bis Ruhe einkehrte. Bernina, ich bin immer noch völlig sprachlos.
Wo hast du nur so zu fechten gelernt?«
    Bernina lächelte
traurig. »Ich hatte einen guten Lehrer.« Sie sah an ihm vorbei auf den weißen
Satinhimmel des Bettes. »Was passierte, als ich ohnmächtig wurde? Was wurde aus
den beiden Männern auf dem Flur?«
    »Das war merkwürdig«,
antwortete er nachdenklich. »Dieser Feldwebel, den ich kurzzeitig außer Gefecht
gesetzt hatte, tauchte auf und drängte seinen Hauptmann, uns als Geiseln zu
nehmen. Es sah ja schon sehr schlecht für sie aus, viele Kämpfer hatten sie
verloren, und das hätte ihnen gewiss noch einmal einen Vorteil verschafft. Der
Hauptmann allerdings war dagegen. ›Wir sind keine Geiselnehmer‹, sagte er. ›Wir
kämpfen bis zum Ende. Wir sind Soldaten.‹ Und dann ließen sie uns einfach auf
dem Flur zurück. Mit dem Rest ihrer Truppe verschanzten sie sich in dem Salon,
in dem wir gestern noch unsere Mahlzeit eingenommen hatten. Unser Offizier bot
ihnen an, in Ehren die Waffen zu strecken.«
    »Aber der Hauptmann ließ
sich nicht darauf ein«, sagte Bernina leise. Sie erinnerte sich an den kurzen
Moment, als sie Norby zum ersten Mal in Teichdorf gesehen hatte. Damals war
Anselmo in ihrer Begleitung gewesen, doch ihm war der Schwede nicht
aufgefallen, und auch danach waren sich die beiden Männer nie begegnet.
    »Schließlich waren es
seine eigenen Leute, die den Hauptmann überwältigten«, fuhr Anselmo fort. »Zu
viert oder zu fünft drückten sie ihn zu Boden, damit ein anderer von ihnen ein
weißes Tuch schwenken konnte. Das war das Ende. Dieser Feldwebel übrigens, für
den kam die Kapitulation zu spät. Er war einer der letzten, der gefallen war.«
    Bernina spürte einen
Stich in ihrem Herzen. Feldwebel Meissner war ein guter Mann gewesen. Alles
erschien ihr auf einmal so trostlos, überwältigend trostlos.
    »Und jetzt?«, fragte sie
nach einer Weile. »Wo sind die Gefangenen? Was geschieht mit ihnen?« Sie fühlte
Anselmos Blick auf sich und erwiderte ihn noch immer nicht.
    »Zuerst waren sie voller
Zorn auf ihren Anführer, weil er sie beinahe in den Tod getrieben hätte,
anstatt aufzugeben. Wir überlegten, ihn vom Rest zu trennen, doch schließlich
beruhigten sie sich wieder. In dem Salon, wo alles endete, sind sie
eingeschlossen. Sie werden gut bewacht.«
    Die Tür sprang auf und
Elena platzte herein, zuerst noch mit Sorgenfalten, dann mit erfreutem
Ausdruck. »Wie schön, dass es dir wieder gut geht, Bernina.« Sie strahlte. »Ich
lasse eine schmackhafte Stärkung zubereiten, und nachher werden wir alle das
angenehmste Abendessen seit Langem genießen.«
    »Ich will nicht
unhöflich sein«, sagte Bernina, »aber …«
    »Keine Sorge«, fiel
Elena ihr ins

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