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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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der Wölfin rückte der Moment des Abschiednehmens
heran. Drei Tage, in denen Bernina sich Ruhe gönnte, sich dazu zwang, nicht
mehr ständig über die düstere Vergangenheit und die völlig offene Zukunft
nachzusinnen. Tage mit gutem Essen und kurzen Spaziergängen mit Anselmo rund um
das Mauerwerk, wobei sie die Blicke immer wieder aufmerksam in die Ferne
schweifen ließen. Doch alles war ruhig, niemand ließ sich am Horizont sehen,
ein harmloses Bild der Stille und des Friedens.
    Ganz lange drückte Elena
Bernina an sich. Und noch länger ihren Sohn. Tränen standen in ihren schönen
Augen, doch wie immer gelang es ihr auch diesmal, Haltung zu bewahren.
Natürlich war sie dagegen gewesen, Anselmo und Bernina ohne gebührenden Schutz
die Heimreise antreten zu lassen, und sie bestand darauf, ihnen Padilla und
weitere Männer an die Seite zu stellen. Letztlich jedoch hatten sich die beiden
durchgesetzt. Von einem anderen Gedanken hatte sich Elena hingegen nicht
abbringen lassen: Diesmal wurde der Seeweg gewählt. Längst war ein Kurier mit
einem Schreiben unterwegs, durch das alle Vorbereitungen für eine Fahrt übers
Meer getroffen wurden. Elena ließ alte Verbindungen spielen – so würden Anselmo
und Bernina in Valencia von einem Schiff erwartet, das zwar schon seit Langem
nicht mehr in See gestochen war, sich aber angeblich dennoch in so gutem
Zustand befand, dass es die Überfahrt an die französische Küste meistern
konnte. In Frankreich wären Anselmo und Bernina dann zwar auf sich allein
gestellt – aber man war zu der Überzeugung gekommen, dass der Seeweg zunächst
einmal viel Zeit und Mühen sparen würde.
    Immer
wieder schauten sie von ihren Pferderücken zurück zur Festung, wo Elena einsam
und aufrecht vor dem Tor stand, um ihnen so lange wie möglich
hinterherzuwinken. Anselmo hatte ihr versprechen müssen, sie eines nicht allzu
fernen Tages wieder zu besuchen, doch beiden war klar, welch beeindruckende
Entfernung sie voneinander trennte. Begleitet wurden sie von dreien jener
Soldaten, die den Angriff der Alvarado-Rose erfolgreich niedergeschlagen
hatten. »Wenigstens bis Valencia«, hatte Elena heftig hervorgebracht,
»wenigstens bis ihr das Schiff besteigt, werdet ihr nicht schutzlos unterwegs
sein. Und dieses Mal lasse ich mich gewiss nicht umstimmen.« Und dabei blieb es
auch.
    Weiterhin
herrschte eine bissige Kälte, die durch einen beständig rauschenden Wind
Nachschub erhielt. Doch davon abgesehen, ließ sich der erste Abschnitt ihres
weiten Weges gut angehen. Sie legten immer wieder kurze Pausen ein, und Bernina
gestand Anselmo, wie aufgeregt sie angesichts ihres ersten Schiffsabenteuers
war. »Es wird dir bestimmt gefallen«, lachte er auf. »Und übrigens: Für mich
ist es auch etwas ganz Neues. Bin schon gespannt, wie es sein wird.«
    »Dann ist dir also auch
nicht mehr unwohl bei dem Gedanken, dass die Angreifer begnadigt wurden.«
    »Nein.« Er winkte ab.
»Von ihnen haben wir wohl tatsächlich nichts mehr zu befürchten.«
    Die Wälder wurden
dichter, unwegsamer, und nun kamen sie nicht mehr ganz so schnell voran. Aber
dadurch ließen sie sich nicht ihre Zuversicht rauben. »Wir haben diesen weiten
Weg ja schon einmal bezwungen«, erklärte Bernina, »warum also nicht ein zweites
Mal?«
    »Da waren wir aber nicht
zusammen unterwegs«, erwiderte Anselmo.
    »Umso sicherer bin ich,
dass es uns auch jetzt gelingt!«
    Das Laub knisterte unter
den Hufen der Pferde. Über den kahler werdenden Baumwipfeln riss das Grau des
Himmels erstmals seit Tagen auf. Als sich der Wald lichtete, wurden sie von
gleißendem Licht empfangen, das ein wenig der verlorenen Wärme zurückbrachte.
Sie zügelten die Pferde, und Bernina betrachtete Anselmo, dessen schwarzes Haar
die Sonnenstrahlen widerspiegelte. Sie lachten einander an, ein sorgloser
Moment, der Bernina alle Mühsal vergessen ließ, der ihr einfach einen großen
Schub Hoffnung gab.
    Und genau in diesem
Moment krachten die Schüsse. Berninas Pferd bäumte sich wild auf. Im Fallen
nahm sie voller Entsetzen wahr, dass auch Anselmo aus dem Sattel gerissen wurde
– und sein Schmerzensschrei drang ihr durch Mark und Bein. Der harte Aufprall
dagegen wurde ihr kaum bewusst, auch nicht, wie sie in fieberhafter Eile wieder
auf die Beine kam. Zwei ihrer Begleitsoldaten lagen regungslos auf der Erde,
Blut auf ihren Lederwämsern. Ein Dritter focht verbissen gegen zwei plötzlich
aufgetauchte Männer, deren rote Umhänge mit Staub und Schmutz bedeckt

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