Die Sehnsucht der Krähentochter
sich der Schwede mit leiser Stimme an sie,
»wie es war, als wir uns vor Kurzem zum ersten Mal der See und dieser Stadt
näherten?«
»Ja«, erwiderte sie
ebenso verhalten. »Vieles ist seitdem geschehen. Gutes wie Böses.«
Durch den Lärm der
Straßen und Seitengassen erwachte Anselmo, der erschöpft vor sich hingedöst
hatte. Als sie den Hafen erreichten, erkundigte er sich vom Wagen aus bei
vorbeilaufenden Seeleuten nach dem Schiff, mit dem sie laut Elena auslaufen
sollten. Es hieß Isabella, und in Bernina rief der Name selbst jetzt noch ein
eigenartiges Gefühl hervor. Jener Moment im Wald von Teichdorf, als sie
fassungslos auf das spanische Schreiben mit der schön geschwungenen
Unterschrift geblickt hatte, war nach wie vor gegenwärtig. Und sie wiederholte
in Gedanken dieselben Worte, die sie zuvor dem Schweden gegenüber geäußert
hatte: Vieles ist seitdem geschehen.
Eine
schlanke, kunstvoll geschnitzte Galionsfigur zog rasch ihre Blicke auf sich: Der
Körper war einer Meerjungfrau nachempfunden, der Kopf allerdings gehörte einem
Wolf. Die Segel waren nicht gesetzt, und die Masten mit ihren Gestängen,
Verspannungen und Seilzügen wirkten kahl, wie abgenagte Fischgräten. Sie
näherten sich der Galeone, die recht imposant wirkte – zumindest auf Bernina.
Das Vorderschiff war eine Etage höher als das hintere, der mittlere Teil völlig
ohne Aufbauten. Ein Kapitän namens Mendoza war von Elenas Kurier unterrichtet
worden und erwartete sie bereits. Als Bernina den humpelnden Anselmo stützte
und sie Arm in Arm über die Planken schritten, wurde ihr bewusst, dass schon
wieder ein neuer Abschnitt begann. Hinter sich hörte sie die hart auftretenden
Stiefelsohlen Nils Norbys. Sie roch das Salz, und mit Bangen fragte sie sich,
ob sie es schaffen würde, irgendwann wieder in Frieden auf dem Petersthal-Hof
leben zu können, so wie in den vergangenen Jahren. Das Schiff schwankte leicht
im Wind, und mit ihrem ganzen Leben war es seit Langem ebenso – es war ins
Schwanken geraten. Allerdings nicht nur leicht, sondern so stark, dass es ihr
die Luft zum Atmen raubte, sie nicht mehr klar zu denken vermochte.
Bernina ließ ihren Blick
über das Deck gleiten. Würde das Meer freundlich zu ihnen sein? Ein komisches
Gefühl, keine Walderde oder Felsgestein unter den Füßen zu haben. Kapitän
Mendoza, gehüllt in eine dunkelblaue Uniform mit roten Aufschlägen und
Armstulpen, empfing sie so militärisch, wie sein Äußeres verhieß. Seine
Mannschaft hingegen lief in unterschiedlichsten Jacken und Hosen umher.
Schon am selben Abend
stach die Isabella in See. Bernina und Anselmo hatten eine Kajüte, eher einen
winzigen Verschlag, für sich erhalten, in dessen finsterem Innenraum sie sich
aneinanderschmiegten. Wo Norby untergekommen war, wusste Bernina noch nicht.
Sie lauschte dem gleichmäßigen Atmen ihres Ehemannes und den fremden Geräuschen
des Schiffes und des Meeres – den Rufen der Seeleute, dem Wind, der in die
Segel klatschte, dem Wasser, das den Rumpf umrauschte.
Müdigkeit breitete sich
in ihr aus, immer wieder fielen ihr die Augen zu. Das Schaukeln hatte etwas
Sanftes, Einlullendes. Erst eine Stimme ließ Bernina wieder aufmerksam werden.
Sie blinzelte in die Dunkelheit. Der Geruch der Planken kroch in ihre Nase.
»Was hast du gesagt?«, fragte sie flüsternd.
»Ach, ich habe nur laut
gedacht. Laut gegrübelt«, antwortete Anselmo ebenfalls leise.
»Worüber?«
Ȇber alles und nichts.
Über das Leben und den Tod. Über den Irrsinn, dem man manchmal ausgeliefert
ist.« Er rückte näher an sie heran. »Früher war die Welt für mich endlos, eine
Weite ohne Grenzen. Dabei ist sie viel kleiner, als ich annahm. Sie ist nicht
einmal groß genug, um seiner eigenen Herkunft, seiner eigenen Familie zu
entkommen. Und den Taten, derer man sich vor langer Zeit schuldig gemacht hat. Alles
holt einen irgendwann ein. Ganz egal, wie weit man davongelaufen ist.«
»Aber das bedeutet
nicht, dass man nie wieder neue Chancen bekommt. Wir müssen eben einfach von
vorn anfangen.«
»Möchtest du das?«
»Natürlich. Das, was uns
zusteht, werden wir uns zurückholen. Jedenfalls werden wir alles daransetzen.«
Trotz der Dunkelheit
spürte Bernina seinen Blick auf sich.
»Das meinte ich nicht«,
sagte Anselmo leise. »Die Frage ist eher, ob du willst, dass ich bei diesem
Vorhaben an deiner Seite bin.«
»Wie kannst du nur daran
zweifeln?«
»Es gibt nichts, das du
mir erzählen willst?«
»Nein«, sagte sie nur,
und
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