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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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auf sie, der
kurze Zug der gerade einmal zehn Aneinandergeketteten kam zum Stehen.
    Erst als sie Anselmo,
Elena und Padilla erreichte, hielt auch Bernina inne. »Bernina«, rief Anselmo
erstaunt aus. »Was willst du denn hier?«
    Um Atem ringend, sah sie
ihn unverwandt an. »Was passiert mit diesen Männern?«
    Elena meldete sich zu
Wort: »Sie werden ihre gerechte Strafe erhalten.«
    Bernina drehte sich zu
ihr. »Gerechte Strafe? Wer kann schon sagen, was gerecht ist? Man kann doch
nicht einfach den Befehl geben, sie töten zu lassen.« Sie spürte, dass die
Gefangenen, dass alle sie beobachteten. Auch Nils Norby.
    »Niemand erteilte einen
solchen Befehl. Ich habe dir schon einmal gesagt, dass wir keine Mörder sind.
Die Männer werden nach Valencia gebracht. Dort wird man sie der Staatsgewalt
zuführen. Und dann steht ihnen gewiss eine lange Zeit im Kerker bevor. Oder der
kurze Besuch beim Henker.«
    »Das will ich nicht«,
entfuhr es Bernina – und sie war selbst verwundert darüber.
    »Wie bitte?« Elenas
Augenbrauen hoben sich kurz.
    »Das
sind keine üblen Kerle«, entgegnete Bernina rasch. Ihr wurde bewusst, dass die
Gefangenen in ihr mittlerweile den schweigsamen Soldaten Falk erkennen würden,
aber das war ihr egal. »Das sind keine gemeinen Verbrecher. Was sie getan
haben, war nicht richtig. Und tatsächlich, sie hätten dafür eine Strafe
verdient. Aber ich kenne sie, und ich weiß, dass sie für niemanden in La
visitación mehr eine Gefahr darstellen. Ich will, dass sie begnadigt werden.«
    »Aber Bernina.« Anselmo
betrachtete sie zweifelnd. »Wir können uns nicht das Recht herausnehmen …«
    »Weshalb denn nicht?«,
unterbrach sie ihn. »Ich bin überzeugt davon, Elena wird sich als würdige,
ehrenvolle Siegerin erweisen. Die Staatsgewalt hatte mit dieser
Auseinandersetzung nichts zu tun. Es liegt allein an Elena zu entscheiden, was
mit diesen Männern geschehen soll.«
    Während sich von Neuem
Stille über den Festungshof senkte, spürte Bernina seinen Blick ganz stark auf
sich, so wie damals in den Wäldern rund um Teichdorf, den Blick aus diesen
grünen Augen.
     
    *
     
    Zerrissene Wolken musterten das Schwarz des Nachthimmels, der nur
vereinzelten Sternen ein Funkeln erlaubte. Nicht mehr bedrohlich, eher
beruhigend wirkte die Stille auf einmal, wie eine Einladung, durchzuatmen und
an nichts Bedrückendes zu denken. Der Kampfeslärm, das Aufbrüllen der Gewalt,
die Todesschreie schienen länger zurückzuliegen als lediglich ein paar Stunden.
Bernina allerdings fiel es schwer, einfach nur durchzuatmen.
    Es war kalt, die Luft
endgültig erfüllt von herbstlicher Strenge. Der Sommer hatte sich so rasch
davongeschlichen, dass er fast nur wie eine Einbildung nachwirkte. Bernina zog
die gemusterte Decke, die sie zuvor im Gebäude ergriffen hatte, enger um ihre
Schultern. Allein zu sein, keine Stimmen hören zu müssen, tat ihr gut. Sie
hatte sich mit kaltem Fleisch und Obst stärken können, aber ihr Kopf fühlte
sich seltsam müde an. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zurück zu Nils Norby
und seinem stark geschrumpften Gefolge. Ein merkwürdiges Bild, wie diese Männer
ihre Freilassung hinnahmen, irgendwie emotionslos. Immer noch hintereinander,
obwohl man ihnen Fesseln und Fußketten abgenommen hatte, durchschritten sie das
Festungstor, wortlos. Nicht als wären sie gerade eben noch einmal davon
gekommen. Eher als würde sie der Henker erwarten. So waren sie aus Berninas
Blickfeld verschwunden, der Schwede vorneweg, der sich nun endgültig aus ihrem
Leben entfernte – den sie wohl niemals wiedersehen würde. Und sie hatte sich in
jenem Moment lieber nicht die Frage gestellt, was sie dabei empfand.
    Licht aus einem Fenster
des nahen Hauptgebäudes warf Berninas Schatten auf die Schutzmauer, und sie
betrachtete ihr eigenes Abbild mit unschlüssigem Blick. Welcher Schritt wird
dein nächster sein?, fragte sie die langgezogenen, unscharfen Umrisse. Welche
Richtung wirst du jetzt einschlagen?
    Worte, die sie an diesem
Tag schon einmal zu glauben gehört hatte, kehrten zurück zu ihr. Gesprochen von
einer Stimme, die ihr so vertraut war: Dein Weg ist erst dann zurückgelegt,
wenn der Kreis sich schließt. Hier und jetzt, in der Einsamkeit dieser
spanischen Herbstnacht, wusste sie, was damit gemeint war. Und sie erkannte,
wie wahr dieser Satz war.
    Als
eine Hand unvermittelt ihre Schulter berührte, zuckte sie zusammen. Anselmo
trat vor sie und gab ihr einen Kuss. »Verzeih mir, ich wollte dich

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