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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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weißt genau, dass
ich das nicht zugelassen hätte. Ich hätte dich nicht allein gehen lassen.«
    »Ja, das weiß ich,
Bernina.«
    »Dann lass uns dem Mann
einen Besuch abstatten, der gemeinsam mit Egidius Blum so viel Schrecken über
uns alle gebracht hat.«
    Er lächelte wieder, ganz
kurz nur. »Die Frage ist bloß, wie wir das schaffen können. Gerade jetzt werden
die Männer wachsamer und gewalttätiger sein denn je. Wie ich es mir denke,
halten die meisten von ihnen den Schankraum, ja das ganze Erdgeschoss besetzt.
Wir können nicht einfach durch die Vordertür hineinspazieren.«
    »Ich habe mir schon
etwas ausgedacht«, flüsterte Bernina. »Allerdings wird es nicht einfach sein.«
    Sie umrundeten das
Fachwerkgebäude, das ihnen Schutz geboten hatte, und näherten sich von hinten
dem Gasthaus. In Teichdorf herrschte wieder die geisterhafte Stille von vorhin.
Doch mit Sicherheit hatte jeder einzelne Bewohner den Disput auf der
Hauptstraße mitbekommen, da war Bernina sich sicher.
    Jeden Schritt setzten
sie mit äußerster Bedachtsamkeit, jedes noch so leise Geräusch versuchten sie
zu vermeiden. Im Stall fanden sie, was sie suchten: eines jener Seile, mit
denen oft mehrere Pferde aneinander gebunden wurden. Anselmo rollte es zusammen
und warf es sich um die Schulter. Wieder draußen angekommen, bückte er sich. Er
faltete die Hände, um Bernina so eine Trittstufe zu bieten. Vorsichtig nutzte
sie die Hilfe, um sich auf das flache, von einigen tückisch rutschigen
Schneeflecken bedeckte Bretterdach des Schuppens zu ziehen. Eines der
untergestellten Pferde wieherte laut auf, aber ansonsten blieb alles ruhig.
Anselmo stemmte sich mit Berninas Hilfe ebenfalls nach oben.
    Vom Schuppendach
gelangten sie ohne Schwierigkeiten auf das Schrägdach des Gasthauses. Noch
rutschiger war es hier, noch gefährlicher. Anselmos Hand schloss sich um
Berninas, und Schritt für Schritt führte er sie nach oben. »Deinen Plan in die
Tat umzusetzen, könnte uns Kopf und Kragen kosten«, flüsterte er.
    Bernina sagte nichts.
Sie fühlte die kalte Luft auf ihren Wangen, und im Unterbewusstsein nahm sie
wahr, wie der Horizont an Helligkeit gewann. Nacheinander überwanden sie die
Kuppe des Daches. Anselmo ließ Bernina los, um das eine Ende des Seils am
Schornstein festzubinden. An der Giebelspitze, genau über dem
darunterliegenden, nach wie vor erleuchteten Fenster, hielt er kurz inne. Er
legte den Arm um Berninas Hüften. »Halt dich gut an mir fest.« Seine Stimme war
nur ein Hauchen, dennoch sprach Entschlossenheit aus ihr. Das andere Seilende
umschloss mehrfach seine Rechte.
    Ganz kurz zögerten sie,
zwei Gestalten auf der Dachspitze, wie miteinander verwachsen. Erneut drangen
seine Worte fast unhörbar an ihr Ohr: »Denk daran, die Beine ganz stark
anzuziehen. So fest es nur geht.«
    Bernina nickte. Ihre
Hände krallten sich an Anselmo fest. Sie schloss die Augen.
    Dann sprangen sie in die
Tiefe.
     
    *
     
    Der Windzug wie eine eisige Welle. Ein Rauschen, ein Krachen, ein
Bersten. Geräusche von zersplitterndem Holz und Glas, und plötzlich Helligkeit,
verströmt von mehreren Kerzen, deren Flammen in der auf einmal
durcheinandergewirbelten Luft tanzten. Der Aufprall auf hartem Boden, und so
viele Eindrücke, denen die eigenen Blicke hinterherhetzen mussten.
    Holzboden, teilweise
bedeckt von Teppichen, Holzwände, wuchtige Holzpfeiler, die die Decke nach oben
stemmten. Und zwei Augen, in denen Überraschung und Ungläubigkeit miteinander
rangen.
    Anselmo war als Erster
von ihnen auf den Beinen. Während er Bernina nach oben zog, regneten
Glassplitter aus seiner Kleidung, aus seinem Haar. Und in seiner Hand lag
bereits die Pistole. Alles ging schnell, so verstörend schnell. Die Tür sprang
auf, vier Männer mit roten Umhängen strömten herein. Die Mündung der Waffe
jedoch ließ sie wie gegen eine unsichtbare Wand prallen. Anselmos Stimme surrte
entschlossen durch den Raum, und die spanischen Worte brachten die ihrerseits
bewaffneten Söldner dazu zurückzuweichen. Er wiederholte, was er gesagt hatte,
und widerstrebend verließen sie wieder den Raum. Darauf schlug Anselmo die Tür
so heftig zu, wie sie eben aufgestoßen worden war. Noch immer grenzenlos
angespannt, nahm Bernina aus den Augenwinkeln den Tisch wahr, der von
Essensresten, leeren Weinflaschen, Lachen aus Kerzenwachs übersät war. Sie sah
das Bett, die Stühle, einige große Truhen, die Kiste, mit Seide ausgeschlagen,
in der die Geige gebettet war. Zwei Schritte

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