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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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verschwinden.«
    »Ich habe die Neuigkeit
bereits erfahren. Na ja, war wohl nicht anders zu erwarten. Ich habe es mir
etwas zu lange hier gutgehen lassen. Für gewöhnlich ist mein Gespür besser:
Sonst war ich mit den Männern über alle Berge, wenn die Armeen auftauchten.«
    »Natürlich nachdem du
schutzlose Siedlungen wie diese hast ausbluten lassen.«
    »Wir müssen alle sehen,
dass wir vom Leben etwas Gutes abbekommen, denkst du nicht?«
    »Ich denke eher, dass du
der erste Mensch bist, den ich wirklich töten will.« Anselmos Stimme war
verändert. In seinen Augen loderte ein Feuer, und Bernina spürte, dass er drauf
und dran war, die Pistole abzufeuern.
    »Ich sage es noch
einmal: Du hast nicht den Mut dazu!«
    Bernina sah, wie sehr es
in ihrem Mann wütete, wie groß die Gefahr war, dass der tödliche Schuss sich
lösen würde.
    Doch es war ein anderes
Geräusch, das ertönte. Ein leises, beinahe sanftes Rascheln, das den Stoff des
Vorhangs in Wellen versetzte. Alle Blicke richteten sich auf den nachtblauen
Samtstoff. Und abermals war es tiefste Verwirrung, die in Bernina aufwallte,
abermals war es diese Ähnlichkeit, die ihre Kehle trocken machte.
    Ein junger Mann trat
hervor. Eher noch ein Junge, vielleicht 17 Jahre alt. Schwarz sein Haar, auch
seine Augen. So muss Anselmo vor Jahren ausgesehen haben, schoss es Bernina
durch den Kopf. Der Junge hielt eine Pistole in der Hand, die neuer, edler
wirkte als Anselmos. Golden schimmerten Hammer und Abzugsring. Das also war der
Diener oder Leibwächter, von dem im Ort immer die Rede gewesen war. Doch beide
Bezeichnungen waren nicht ganz zutreffend, wie sich jetzt herausstellte.
    »Darf ich dir deinen
Bruder vorstellen?«, sagte Ernesto Alvarado, den Blick auf Anselmo gerichtet.
»Das ist Domingo Alvarado.«
    Pistolenmündung gegen
Pistolenmündung standen die Brüder einander gegenüber.
    »Domingo wird es weit
bringen«, fuhr ihr Vater fort. »Er ist nicht so verweichlicht, wie du es immer
warst. Kein Blut von Elenas Lobo-Sippe fließt in seinen Adern. Seine Mutter
mussten wir irgendwo in dieser wirren Welt zurücklassen. Aber das spielt keine
Rolle mehr.«
    »Runter mit der Waffe«,
forderte Anselmo.
    Der Junge regte sich
nicht, steif und breitbeinig stand er da, allein der Glanz in seinen Augen ließ
erkennen, wie aufgewühlt er in diesem Moment sein musste.
    Die verschwindende Nacht
wurde von plötzlich aufbrandendem Lärm endgültig vertrieben. Musketenschüsse
und Schreie hallten durch die Gassen – d’Orvilles Armee war da. Und sie traf
auf Alvarados verbliebene Männer, die sich zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in
Teichdorf gezwungen sahen, ihre Waffen nicht nur gegen wehrlose Zivilisten zu
erheben. Der trommelnde Klang eiliger Schritte auf Kopfsteinpflaster drang hoch
in das große Zimmer des Gasthauses, wo noch immer alles in Bewegungslosigkeit
erstarrt zu sein schien.
    »Runter mit der Waffe«,
wiederholte Anselmo.
    Etwas musste passieren.
Etwas würde passieren.
    »Schieß!« Ein Wort nur
aus dem Munde Ernesto Alvarados, doch das war wie der Stich einer Klinge.
    Und ein Schuss löste
sich mit einem unnatürlich lauten Krach.
    Anselmos Oberkörper
zuckte. Seine Waffe fiel polternd zu Boden. Beide Hände presste er auf die
Brust. Er sank auf die Knie.
    »Nein!« Berninas Schrei
ließ die Wände erzittern. Sie wollte zu ihrem Mann stürzen – doch Domingo Alvarado
stand auf einmal in ihrem Weg. Auch er hatte die Pistole fallenlassen. Ein
Nachladen hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen. Lässig zog er aus seinem
Gürtel einen Dolch, den Bernina in ihrer Aufregung übersehen hatte. Domingo
blickte kurz zu seinem Vater, der einfach bloß nickte – eine gerade nur
angedeutete Bewegung, die Berninas Todesurteil war.
    Geistesgegenwärtig, als
würde ihre Hand von jemand anderem geführt, griff sie nach einem der Degen auf
dem Ständer. Der junge Alvarado wich geschmeidig zurück, ebenso überrascht wie
sein Vater.
    Die Tür sprang auf.
Diesmal waren es drei von schillerndem Rot umhüllte Männer, die eindrangen,
jeder von ihnen bewaffnet mit einem Degen. Sie warfen einander kurze Silben zu,
dann schnarrte Ernesto Alvarados Stimme, und einer der drei ging mit langen
entschlossenen Schritten auf Bernina zu. Die beiden anderen begannen damit, die
Truhen aus dem Zimmer zu schaffen. Domingo sprang zu seinem Vater, um ihn zu
stützen und rasch nach draußen zu bringen. Ein Kämpfer würde für Bernina
ausreichen, daran ließ der rasche Aufbruch keinen

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