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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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benötigte einige Momente, um sich davon zu lösen. Mit
langsamen Schritten beschrieb sie einen Bogen um den baumelnden Wolf, dann
waren es wieder allein die Worte des Knechtes, die sie beschäftigten.
    Kurz darauf gelangte sie
zu der Lichtung. Ein kleines, grünes Fleckchen inmitten des Waldes.
Buschwindröschen und Wildblumen reckten sich der Sonne entgegen, ein Bach
plätscherte. Bernina ging durch das Gras auf den schwarzen abgestorbenen Stamm
einer Buche zu. Neben toten Wurzelsträngen sah die Erde aufgewühlt aus. Oder
kam es ihr nur so vor?
    Will ich hier überhaupt
irgendetwas finden?, fragte sich Bernina und ging in die Knie. Sie begann zu
graben, und sie fühlte sich lächerlich dabei. Ihre Hände wurden schmutzig, Erde
schob sich unter ihre Fingernägel. Hör auf damit!, forderte sie von sich
selbst.
    Doch sie konnte nicht
aufhören. Neben ihr wuchsen kleine Häufchen aus Erde. Auf einmal stießen ihre
Fingerkuppen auf etwas Hartes. Ein Stein, dachte sie zuerst, aber es handelte
sich um Holz. Sie befühlte es, griff danach, beförderte es schließlich ans
Tageslicht.
    Ein einfaches
geschnitztes Kästchen. Nicht sonderlich groß. Die Ränder waren von Silber
verstärkt, dessen Kälte sich auf Berninas Haut übertrug. Auch der Haken, der
den Deckel verschloss, war aus Silber. Bernina begutachtete das Holzkästchen
von allen Seiten. Ganz ruhig atmete sie ein und aus. Der Wald um sie herum
schwieg.
    Mit dem Finger öffnete
sie den Haken, dann hob sie den Deckel an. Noch bevor sie den Inhalt richtig
sehen konnte, roch sie etwas. Ein zarter Geruch wie von teurem Duftwasser
schlich sich in ihre Nase. Bernina stellte das Kästchen vor sich ab und holte
einen Bogen Papier daraus hervor. Das Papier war eindeutig älter als das von
Anselmos Nachricht. Spröde, rissig fühlte es sich zwischen Berninas
vorsichtigen Fingern an. Offenbar hatte es einen ziemlich weiten Weg zurückgelegt.
    Ihr Blick wanderte
hastig über die geschriebenen Zeilen. Eine schöne Schrift. Mit ausdrucksstarken
Schwüngen kringelten sich die Buchstaben ineinander. Bernina fühlte, wie sich
die Enttäuschung in ihr ausbreitete, als sie feststellte, dass die Worte in
einer fremden Sprache verfasst worden waren. Sie konnte sie lesen, jedoch nicht
verstehen. Bis auf zwei. Mit trockenem Mund las Bernina die Anrede, in der ihr
der Name geradezu entgegensprang: Anselmo. Dann fiel ihr Blick auf die
Unterschrift, die nur aus einem Wort bestand: Isabella.
    Erneut bemühte sie sich,
ganz ruhig ein- und auszuatmen.
    »Isabella«, sagte sie
dumpf, als müsse sie prüfen, wie der Name sich auf ihren Lippen anfühlte.
    Jetzt erst entdeckte sie
den Stoff, der unter dem Brief gelegen hatte. Sie hob ihn hoch und breitete ihn
in ihren Händen aus. Ein Seidentuch in einem satten, schillernden Rot. Der Duft
war nun stärker, ein besonderer Duft, schöner als jeder andere, der jemals
Berninas Nase umspielt hatte. Als würde sie das Gesicht in ein Meer aus frisch
gepflückten Blüten tauchen. Wann und wo auch immer er darauf geträufelt worden
war, er hatte sich in dem feinen Gewebe gehalten. Mit goldenem Faden war in
eine der Ecken ein Symbol gestickt worden. Bernina erwartete schon, dass es
sich als Rose entpuppen würde. Doch es stellte sich als der schmale, längliche
Kopf eines Wolfes heraus, der sich aus einer Falte schälte: ein goldener Wolf
auf rotem Grund. Bernina blickte die Stickerei an, dann erneut die
geschwungenen Zeilen des Briefes. Da war kein Datum. Und abermals fiel ihr kein
Wort auf, aus dem sie irgendeine Bedeutung herauszulesen vermochte. Nicht nur
enttäuscht, mit einem Mal auch irgendwie müde, verstaute Bernina Papier und
Tuch wieder in dem geschnitzten Kästchen. Zuerst beschloss sie, es mit auf den
Hof zu nehmen, dann überdachte sie die ganze Sache noch einmal. Wenn es
wirklich Anselmo gehörte, befand es sich allein deswegen hier, damit sie nichts
davon erfuhr.
    Mit einem Gefühl tiefer
Traurigkeit vergrub sie das Holzkästchen an genau der Stelle, wo sie darauf
gestoßen war. Sie richtete sich auf, und ihr Blick verlor sich in der endlosen
Weite des Himmels, der begonnen hatte, sich mit einem dunklen Schleier zu
überziehen.
    Ausgerechnet auf dieser
Lichtung hatte Anselmo das Holzkästchen vergraben. Ausgerechnet hier, wo er
einst versuchte hatte, Bernina das erste Mal zu küssen. Sie ging zum Bach,
kniete sich an dessen Ufer und wusch sich ausgiebig die Hände. Als sie von dem
guten, klaren Wasser trank, schmeckte sie rein gar

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