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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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nah, sah deren Augen, deren Fangzähne, die auf sie
zuschnellten. Sie hörte die Stimme des Wolfsjägers, den fremden Akzent. Sie sah
den toten Wolf im Baum hängen, sah, wie er in fast schon unnatürlich gleichmäßigem
Rhythmus hin und her schwang. Mit diesen wirren Bildern glitt sie doch noch in
den Schlaf, der mit ebenso wirren Träumen über sie herfiel.
    Als sie daraus
hochschreckte, war sie schweißbedeckt. Tageslicht quoll durchs Fenster und über
die zerwühlte Bettdecke hinweg. Bernina konnte es kaum glauben. Sie schien
länger geschlafen haben als jemals zuvor in ihrem Leben. Und dennoch war da ein
mattes, stumpfes Gefühl in ihr. Als sie kurze Zeit später vor das Haus trat,
saß Baldus auf dem Hocker, den sie selbst am Vortag hinausgebracht hatte. Ein
Huhn versuchte an seinem Schuh zu picken, und er vertrieb es mit einem kurzen
Tritt.
    »Du wartest mit
Sicherheit schon lange auf mich.« Sonnenstrahlen umfingen sie, und sie hob sich
die Hand vors Gesicht, um die Augen etwas zu beschatten. »Tut mir leid, dass
ich jetzt erst nach draußen komme.«
    Der Knecht erhob sich.
»Ich bin tatsächlich schon eine Weile hier.«
    Zufällig fiel ihr Blick
auf den Lederbeutel an seiner Hüfte. »Ich möchte nicht allzu neugierig
erscheinen, aber was trägst du da eigentlich unentwegt mit dir herum?«
    Fast ein wenig verlegen
sah er zu Boden. »Gelegentlich meint irgendein Raufbold, ich wäre ein
geeignetes Opfer, an dem er seine Kraft ausprobieren kann. Dann werfe ich ihm
einfach eine Handvoll von dem Zeug in die Augen, das in dem Beutel ist, und
mache, dass ich wegkomme.« Er grinste. »Das ist ein Gemisch aus fein gemahlenem
Pfeffer und ganz klein zerstoßenen Hagebuttenkernen. Damit halte ich mir allzu
wüste Leute vom Hals.«
    Auf seine Art war er ein
überaus gewitzter, findiger Bursche. Daran bestand für Bernina kein Zweifel.
»Wir müssen besprechen«, sagte sie dann, »wie wir die Arbeit für die nächsten
Tage neu einteilen. Du könntest die anderen holen. Aber irgendetwas willst du
loswerden, das sehe ich dir doch an. Habe ich recht?«
    Sofort verfiel er in ein
heftiges Nicken. »Ja, zuvor muss ich Ihnen unbedingt noch etwas erzählen.«
    Es schien ihm wirklich
wichtig zu sein.
    »Also, ich höre.«
    »Vorhin tauchte einer
der Teichdorfer Knechte am Hof auf, um nach Arbeit zu fragen. Einer von denen,
die schon bei der letzten Ernte ausgeholfen haben.«
    »Ja und?«, fragte sie.
    »Er kam aus dem Dorf,
und was er berichtet hat, kommt mir ungeheuerlich vor. Deswegen muss ich es
Ihnen einfach mitteilen.«
    Jetzt hatte sie
endgültig dieses matte Gefühl abgeschüttelt. »Sag mir schon, was los ist.«
    »Es geht um das große
Weizenfeld, das am Rand des Dorfes liegt. Dort, wo früher einmal die Scheune
stand, die dann abbrannte. Da sollen sehr schlimme Dinge vorgehen.«
    »Haben etwa die fremden Männer
etwas damit zu tun?«
    »Die Spanier?« Er nickte
rasch. »Also, ich konnte es kaum glauben. Sie können sich ja gar nicht
vorstellen …«
    »Was für schlimme Dinge,
Baldus?«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Was geht auf diesem Feld vor?«
     
    *
     
    Bereits aus einiger Entfernung waren ihr die Krähen aufgefallen.
Schwarze kreisende Risse im makellosen Blau des Himmels. Immer mehr von ihnen
flogen aus dem Nichts heran, um dann in weiten Bögen in die Tiefe zu gleiten,
das Ziel immerzu fest im Blick.
    Bernina fühlte die heiße
Luft in ihren Lungen. Zwischen Weißdorn und Wacholder hindurch folgte sie einem
schmalen Trampelpfad, auf dem der Matsch nach vielen Tagen Sonnenschein
steinhart eingetrocknet war. Flüchtig betrachtete sie die Häuser, die ihr so
vertraut waren und aus deren Dächern der Kirchturm lang und spitz emporragte.
Kein Laut drang aus Teichdorf zu ihr. Abgesehen von einer sanften Melodie, die
mit Feingefühl auf einer Geige gespielt wurde.
    Kurz bevor sie an eine
Gasse gelangte, die zur Hauptstraße führte, bog sie ab. Das große Weizenfeld
war nicht mehr fern. Aber noch war ihr die Sicht darauf von Apfelbäumen und
Sträuchern versperrt. Nur die kreisenden Vögel, die waren nicht zu übersehen.
    Links das Dorf, rechts
einige kleinere Äcker und die dunklen Waldränder. Bernina lief schneller. Sie
erreichte die Apfelbäume und lief über eine ungemähte Wiese, auf der Ziegen
weideten, dann kämpfte sie sich durch Dornengestrüpp. Sie sah die Leute und
hörte das Krächzen der Krähen, in das sich nun auf einmal menschliche Angstschreie
zu mischen begannen.
    Die
Teichdorfer standen

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