Die Sehnsucht der Krähentochter
Giebelfenster. Sie schmiegten sich an den
Ort wie etwas, das für immer kleben blieb.
»Was sind das für
Lieder?«, riefen sich die Leute mit düsterem Grinsen gegenseitig zu. »Unsere
Totenlieder?«
Es waren nur wenige Tage
vergangen, seit Anselmo die Axt mit Entschlossenheit in den Hackklotz getrieben
hatte. Aber etwas war an diesem Bild gewesen, das Bernina einfach nicht
losließ. Immer wieder hatte sie daran zurückdenken müssen. Auch als sie auf
einem dreibeinigen Hocker saß und das rissig gewordene Leder eines
Dreschflegels einfettete. Die Sonne stand nicht mehr allzu hoch, doch es war
noch strahlend hell. Einige schwache Böen zerfransten die Luft, die weiterhin
getränkt war von Wärme.
Schon als sie Baldus aus
dem Wald kommen sah, dachte sie sofort an Anselmos Gesichtsausdruck bei dem
Schlag mit der Axt. Eben noch in Eile, wurde der Knecht bei ihrem Anblick
langsamer, als müsse er noch überlegen, was er gleich zu ihr sagen sollte.
Sie wusste längst, dass
etwas nicht stimmte. Langsam legte sie den Dreschflegel zu ihren Füßen ab,
ebenso langsam stand sie auf.
Genau
vor ihr hielt der Kleinwüchsige inne. Er sah sie an, einen ernsten Zug um den
Mund. Das Haar stand wie immer in alle Richtungen von seinem etwas zu großen
Kopf ab.
»Was ist los, Baldus?«
Er reichte ihr ein
zusammengefaltetes Blatt Papier. Sofort erkannte sie, dass es aus der Truhe im
Schlafzimmer stammte, wo altes Briefpapier und vieles mehr aufbewahrt wurde,
das einst Berninas Vater gehört hatte: Robert von Falkenberg, ein gebildeter,
in vielerlei Hinsicht begabter Mann, der gestorben war, als Bernina noch ein
ganz kleines Mädchen gewesen war.
»Von wem hast du das?«,
fragte Bernina und betrachtete das Papier.
»Von Ihrem Mann.«
»Wann hat er es dir
gegeben?«
Baldus räusperte sich
und starrte auf seine Fußspitzen. »Schon heute morgen.«
Es
war abgesprochen gewesen, dass Anselmo und Baldus den ganzen Tag gemeinsam auf
den Feldern zubringen würden.
»Und
warum kommst du damit erst jetzt zu mir?«
Zwar
erwiderte der Knecht wieder ihren Blick, aber sein Mund blieb geschlossen.
»Anselmo
hat es genau so von dir verlangt, nicht wahr?«
Ein
zurückhaltendes Nicken war die Antwort.
Angst
hatte Bernina schon lange nicht mehr verspürt. In diesem Augenblick jedoch
schien sich ihr ganzer Magen zusammenzukrampfen. Ihre Kehle war trocken, und
sie merkte, wie sie hart schluckte. Sie wandte sich ab von Baldus, hin zum
Haus, das inzwischen einen größeren Schatten warf – die erste Ankündigung des
kommenden Abends.
Während
Bernina das Blatt Papier auseinanderfaltete, stellte sie sich Anselmos Gesicht
vor. Die strahlenden hellen Augen, eingerahmt von dunklem Teint, darüber das
ungebändigte rabenschwarze Haar. Mit angehaltenem Atem begann sie zu lesen:
›Meine einzige Liebe,
zum ersten Mal wirst du
enttäuscht von mir sein. Ich habe nicht die Ruhe, dir alles genau zu erklären,
aber eines Tages wirst du mehr erfahren. Doch jetzt bleibt mir nichts anderes
übrig, als dich vorerst allein zu lassen. Bevor ich wieder eine Zukunft habe,
muss ich mich erst der Vergangenheit stellen, die mich so unerwartet eingeholt
hat. Bleib so stark, wie du es immer warst.
Dein dich liebender
Anselmo‹
Der Erdboden unter ihr schien sich in Luft aufzulösen, verwandelte
sich einfach in ein schwarzes Nichts, in einen starrenden Abgrund aus
Dunkelheit. Bernina musste sich regelrecht zwingen, weiterzuatmen, Luft in ihre
Lungen zu ziehen und wieder auszustoßen. Sie war nicht in der Lage, auch nur
ein einziges Wort noch einmal zu lesen. Mit kalten Fingern legte sie das Blatt
zusammen.
»Schlimme Neuigkeiten?«,
fragte Baldus.
Ihr war gar nicht
bewusst gewesen, dass er noch immer anwesend war. Auch alles andere nahm sie
erst jetzt wieder richtig wahr: den Dreschflegel am Boden, den Hocker, den
offenen Eingang des Hauses. Langsam drehte sie sich zu Baldus um. Sie sagte
nichts. Ihre Kehle war nach wie vor wie ausgetrocknet.
»Das täte mir wirklich
leid.« Der Knecht betrachtete sie und legte dabei unbewusst seine Hand auf den
Lederbeutel, der wie gewöhnlich an seinem behelfsmäßigen Gürtel hing.
»Weißt du, wer die
Nachricht für meinen Mann aufgeschrieben hat?«
»Niemand.« Ein
Kopfschütteln. »Er selbst hat das gemacht.«
»Bist du sicher?«
»Er sagte es mir.« Jetzt
betonte er jedes Wort ganz besonders deutlich: »Er sagte: Ich habe eine
Nachricht für meine Frau geschrieben.«
Bernina entgegnete
nichts
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