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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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darauf.
    »Einmal habe ich ihn
gesehen«, meinte der Knecht unvermittelt. »Ihren Mann. Ganz zufällig. Auf
dieser Lichtung, die sich etwas nördlich von hier befindet, wo der Bach fließt.
Sie wissen, welche Stelle ich meine, nicht wahr?«
    Sie nickte leicht,
obwohl sie kaum hätte wiedergeben können, was er eben gesagt hatte.
    »Es ist übrigens gar
nicht so lange her«, fuhr Baldus fort. »Ich beobachtete, wie Ihr Mann auf
dieser Lichtung etwas vergraben hat. Ich weiß nicht was, aber ich bin mir
sicher …« Seine Worte verklangen.
    Jetzt doch hellhörig,
musterte Bernina ihn. »Vergraben?«, fragte sie verwirrt.
    »Wie gesagt, ich weiß
nicht, was es war.« Baldus runzelte die Stirn. »Aber er hat irgendetwas unter
die Erde gewühlt. Nicht tief, einfach mit seinen Händen. Hm. Tja.«
    »Und du hast
anschließend nicht überprüft, was das war?« Ihr Blick maß ihn von oben bis
unten.
    »Nein, das habe ich
nicht.« Baldus bemühte sich sichtlich darum, Ehrlichkeit auszustrahlen. »Ihr
Mann befand sich genau neben dem Baum, in den einmal der Blitz eingeschlagen
hat.«
    Bernina
überlegte nicht lange, ehe sie loslief. Mit einem knappen Danke ließ sie Baldus
vor dem Gebäude stehen. Vor Kurzem war ihr frische, weiche Erde an Anselmos
Händen aufgefallen, die er an dem kleinen Hofbrunnen säuberte. Und natürlich
kannte sie die Lichtung – hier hatten sie und Anselmo vor Jahren ihre ersten
gemeinsamen Stunden miteinander verbracht.
    Sie
ging schnell, und noch schneller rasten ihre Gedanken. Nicht nur wegen dem, was
Anselmo ihr geschrieben hatte – sondern weil er überhaupt einen Brief
aufgesetzt hatte.
    Anselmo war ein
Findelkind, das schon im Alter von zwei oder drei Jahren bei der Gauklertruppe
gelandet war, irgendwo in Spanien, weit entfernt von den Tälern und Bergkuppen
des Schwarzwaldes. Ein Kind ohne Heimat, ohne Namen, ohne Geburtsdatum. Ein
Kind, das, von den blauen Augen abgesehen, spanisch aussah und spanische Wortfetzen
plapperte. Das war es, was Anselmo ihr über sich erzählt hatte – über sein
Leben, das er mit dieser bunten, ausgelassenen Gruppe umherstreifender
Musikanten, Artisten und Feuerschluckern verbracht hatte, niemals inmitten der
gewöhnlichen Gesellschaft, immer nur an deren äußerstem Rand. Eine Schule hatte
er nie von innen gesehen.
    Dass
er Schreiben und Lesen beherrschte, hatte er Bernina verschwiegen. Und das warf
natürlich eine andere Frage in ihr auf, eine beißende Frage, die in ihre Haut
schnitt wie eine scharfe Klinge: Was hatte Anselmo sonst noch alles vor ihr
geheim gehalten?
    Ein
paar Augenblicke stellte sie sich den Klang seiner Stimme vor, diesen weichen,
musikalischen Akzent – er war das Einzige, was Anselmo von seinen Ursprüngen in
die Gegenwart mitgebracht hatte. Wo mochte diese Stimme jetzt gerade erklingen,
mit wem mochte sie sprechen?
    Sie
tauchte ein in den Wald, und ihre Gedanken lagen auf ihren Schultern wie
Eisengewichte. Unwillkürlich kam ihr von Neuem der Fremde in den Sinn, mit dem
sich Anselmo auf dem Kirchplatz kurz verständigt hatte. Würde sie ihn
wiedererkennen? Wie hatte er ausgesehen? Schnurrbart, Kinnbart, die unter dem
Hut mit der Feder wucherten. Gebräunte Haut, schwarze Augen. Er war kaum von
den anderen Männern mit den roten Umhängen zu unterscheiden.
    Der Wald umfing Bernina
nun dichter, düsterer. Nur ein schmaler heller Streifen des Himmels zog über
ihrem Kopf dahin. Die Lichtung war nicht mehr fern, als ihr Schritt stockte –
dann blieb sie endgültig stehen. Vor ihr am Baum hing ein Wolf von
beeindruckender Größe. Die Hinterläufe schwangen ganz leicht in der Luft.
    Obwohl das Tier tot war,
ging noch diese unbezähmbare Wildheit von ihm aus, wie ein Geruch, der auf
Bernina zutrieb. Das Fell bräunlich, die Augen starr, die Ohren spitz. Aus dem
offenstehenden Maul ragte ein bluttriefendes Eisen heraus. Das Blut, das sich
im Fell festgesetzt hatte, schien noch feucht zu sein. Bernina hatte ein
solches Eisen noch nie gesehen. Nicht länger als zwei Handbreit war es, an den
scharf zugespitzten Enden mit Widerhaken versehen. In der Mitte befand sich ein
Ring, durch den das Eisenstück mit einem Seil in einiger Höhe an einem starken
Ast befestigt wurde. Ein Fleischbrocken war als Köder aufgespießt worden –
Bernina sah noch die rohen Fasern des Fleischs. Der Wolf war hochgesprungen,
hatte danach geschnappt und dabei gleichzeitig den Haken erwischt – und damit
den Tod.
    Der Anblick hatte etwas
Lähmendes, und Bernina

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