Die Sehnsucht der Krähentochter
nichts.
Auf
dem Rückweg zum Hof nahm sie die Finsternis des Waldes kaum wahr. Ihre Schritte
waren seltsam ziellos, als wäre es ihr vollkommen gleichgültig, wohin sie sie
führen würden. Tote Zweige knackten unter ihren Füßen, immer wieder blieb sie
mit dem Stoff ihrer Ärmel an Sträuchern hängen. Gerade noch duckte sie sich
unter einem tiefen Ast hinweg, ohne sich den Kopf zu stoßen.
Erst
als sie sich der Stelle mit dem toten Wolf näherte, wurden ihre Bewegungen
zielstrebiger, war ihr Kopf wieder klarer. Sie stellte sich schon auf diesen
blutigen Anblick ein, als sie schlagartig verharrte. Ihr stockte der Atem.
Vorsichtig schob sie sich ganz nahe an einen stark mit Moos bewachsenen
Baumstamm. Ihre Hand umfasste die kühle rissige Rinde. Sie holte Luft, auch das
vorsichtig, als könnte das geringste Geräusch ihr Verderben bedeuten.
Der
Wolf hing noch da. Unter ihm jedoch stand ein weiterer Wolf, umhüllt von diesem
diffusen, immer schwächeren Licht, äußerst angespannt, wie zum Sprung bereit,
das Maul offen. Fangzähne blitzten auf.
Das Tier zog ein wenig
den Schädel ein. Sein Fell hatte eine graue Tönung. Entlang des Rückgrats
verlief ein auffälliger, fast silbern schimmernder Streifen. Auf einmal ein
Knurren, das tief auf dem Brustkorb ertönte, sich nach außen drückte, lauter
wurde.
Niemals hatte Bernina
ein bedrohlicheres Geräusch gehört, nicht einmal das Donnern von Kanonen besaß
etwas so Durchdringendes. In der Nase des Wolfes ein Zucken, dann drehte das
Tier seinen Kopf. Geschlitzte Augen erfassten Bernina zwischen den Bäumen. Sie
fühlte den Blick auf sich wie den eines Menschen, sogar noch intensiver.
Doch die Augen des
Wolfes suchten sogleich wieder etwas anderes, und als Bernina um den Baum herum
spähte, den sie nach wie vor unbewusst festhielt, entdeckte sie den Mann.
Diesmal trug er nicht
den schwarzen Henkersumhang, sondern einen Lederwams, wie ihn viele Soldaten
benutzten. Sein Haar fiel locker auf die breiten Schultern. Aus dem Blond stach
die einzelne graue Strähne deutlich hervor, beinahe so wie der Silberstreif aus
dem Wolfsfell.
Im Gegensatz zu dem
wilden Tier hatte er Bernina nicht bemerkt. Sie sah, dass seine ganze
Aufmerksamkeit dem Wolf galt. Völlig regungslos stand er da, links und rechts
von ihm Buchen, als würden sie ihn bewachen. In seinen Armen ruhte eine Armbrust
– die Pfeilspitze war genau auf den Wolf gerichtet.
Bernina rührte sich
ebenso wenig. Auch sie stand einfach nur da, gefangen von dem, was sich vor ihr
abspielte. Der Mann und der Wolf – dazwischen der abschussbereite Pfeil. Sie
erwartete den surrenden Laut, der auf das Lösen der Sehne folgen würde. Und auf
das Geräusch, wenn die Metallspitze den Wolf erfassen würde.
Doch – nichts geschah.
Ein weiteres Knurren lag
in der Luft, als würde es nie wieder aufhören. Aber dann verstummte es doch,
ganz plötzlich. Die Stille war mit den Händen zu greifen. Und der Wolf wich
zurück, setzte dabei ein Bein nach dem anderen vorsichtig nach hinten –
Bewegungen, die auf verrückte Weise etwas geradezu Menschliches besaßen.
Erst recht wartete
Bernina jetzt auf den Schuss. Aber der Pfeil ruhte weiterhin auf der Armbrust.
Der Wolf starrte noch einmal auf sie, noch einmal auf den Mann, um sich dann
mit schnellen geschmeidigen Sprüngen ins Unterholz abzusetzen. Innerhalb von
Wimpernschlägen war er verschwunden. Als wäre er eine Sinnestäuschung gewesen.
Der Mann ließ die
Armbrust sinken – und im nächsten Moment schien sein Blick Bernina geradezu
aufzuspießen. Nicht die geringste Spur von Überraschung lag in den grünen
Augen, die ihr schon in Teichdorf aufgefallen waren. Sie erkannte jetzt, dass
ihm ihr Auftauchen keineswegs entgangen war. Von Anfang an hatte er gewusst,
dass sie da war.
»Zwei außergewöhnliche
Schönheiten so kurz hintereinander«, rief er mit herausforderndem Unterton.
»Heute muss wohl mein Glückstag sein.«
Er redete in Berninas
Sprache, aber mit einem Akzent, den sie nicht recht einzuordnen wusste.
Sie löste sich aus dem
Schutz des Baumes und trat nach vorn. Eigentlich wollte sie überhaupt nichts
darauf erwidern, sondern wortlos an ihm vorbeigehen, um so schnell wie möglich
zurück zum Hof zu gelangen. Doch ihre Worte kamen sogar für sie selbst
überraschend über ihre Lippen: »Zwei Schönheiten? Wasmeinen Sie damit?«
Er lächelte. Anscheinend
zufrieden damit, eine Antwort erhalten zu haben. »Das war eine Wölfin. Und zwar
eine besonders
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