Die Sehnsucht der Krähentochter
weit
entfernten Gegenden getobt. Ja, er war zurück, so mächtig wie immer schon, er
war zurück in Gestalt fremder Männer mit schwarzen Augen. Spätestens jetzt
konnte es daran nicht mehr den geringsten Zweifel geben. Die Ruhe der letzten
Jahre war eine allzu trügerische gewesen.
Endlich erhoben sich vor
Bernina die Gebäude des Petersthal-Hofes. Sie fühlte sich erschöpft, jedoch
nicht unbedingt körperlich. Es war eher so, als würde der Wunsch in ihr wühlen,
sich einfach nur ins Bett zu legen und eine kleine Ewigkeit zu schlafen. Und
das obwohl heller Tag war.
Der Hof lag ruhig,
beinahe wie verlassen vor ihr. Kein Knecht, keine Magd, niemand zeigte sich,
nicht einmal der emsige Baldus, der sonst eigentlich immer etwas zu tun hatte.
Einzig ein paar pickende Hühner sorgten für ein bisschen Leben in diesem
starren Bild.
Die Stille, die auf den
Dächern lastete, nahm Bernina erst so richtig wahr, als sie die letzten
Schritte in Richtung des Hauptgebäudes zurücklegte. Unbewusst ging sie
langsamer. Ihre Hand wanderte schon auf den Türriegel zu, und für einen
flüchtigen Moment kam die Erinnerung an einen ähnlich schönen Tag, an dem
Anselmo diesen Riegel angebracht hatte. Das war der abschließende Akt des
mühevollen Wiederaufbaus des Petersthal-Hofes gewesen.
Jäh verharrte sie, ihre
Hand ausgestreckt in der warmen Luft.
Der Riegel war nicht
ganz vorgeschoben. Das musste nichts bedeuten, rein gar nichts. Aber plötzlich
wurde Bernina die Lautlosigkeit ringsum noch deutlicher bewusst, ebenso wie des
eigenen Herzens, das scheinbar schneller schlug. Geräuschlos, mit aller
Vorsicht schob Bernina den Holzriegel zurück. Der dunkle, für keinen
Sonnenstrahl erreichbare Flur starrte ihr entgegen. Nur zwei Schritte entfernt
klaffte der Durchgang zur Wohnküche. Sie glitt hinein, ohne die Eingangstür
hinter sich zu schließen. In kleinen Schüben sog sie die Luft ein. Auch
innerhalb der Mauern diese Stille, die ihr anders vorkam als sonst.
Jemand ist hier, sagte
sie sich. Mit einem behutsam gesetzten Schritt betrat sie die Küche. Im Flur
plötzlich ein Schatten, direkt hinter ihr.
Unwillkürlich wirbelte
sie herum. Und blickte geradewegs in zwei winzige Augen, in denen es voller
Zorn funkelte.
»Du?«, stieß Bernina
hervor.
»Ja, ich.«
Die Anspannung in
Bernina wich einer großen Erleichterung. »Wenn du wüsstest, was für Sorgen ich
mir um dich gemacht habe.«
»Du solltest dir lieber
um dich Gedanken machen«, kam knapp und irgendwie barsch die Antwort.
»Weshalb siehst du mich
so böse an?«
»Weil ich dich vom Wald
aus beobachtet habe. Vorhin, auf diesem Feld.«
Bernina hielt den
blitzenden Augen stand. »Wie wäre es mit einer Umarmung, nachdem du so lange
fort gewesen bist?«
Das wirkte. Das Gesicht
der Krähenfrau verzog sich langsam zu einem Lächeln. Sie umarmten sich lange.
»Ich kann einfach nie
wütend auf dich sein«, sagte Berninas Mutter mit weicher Stimme, als sie
gemeinsam in die Küche gingen und sich auf einer Decke vor dem Kamin
niederließen. Sie waren es gewohnt, hier beieinander zu sitzen, auch wenn kein
gemütliches Feuer darin brannte.
»Und dabei müsste ich es
diesmal wirklich sein«, fuhr die Krähenfrau schließlich fort. »So wütend, wie
es nur geht. Was ist nur in dich gefahren? Dass man helfen will, ist schön und
gut. Aber was nützt es, wenn man sich damit selbst in Teufels Küche bringt?«
Während sie in die schwarze Kaminöffnung blickte, schüttelte sie wild den Kopf.
»Das kann noch sehr, sehr böse Folgen für dich haben, du dummes, dickköpfiges
Ding.«
Sie
merkte nicht, wie Berninas Blick liebevoll an ihr herabwanderte, an den wie
immer dicken Wollstoffen, die sich um ihren Körper schlängelten. Faltiger war
sie geworden, die Krähenfrau, verhutzelt, wie man es in Teichdorf nennen würde.
Doch Bernina wusste, dass in dem dünnen Körper äußerst rege Lebensgeister
steckten. Und in dem kleinen, von einem Tuch umhüllten Kopf ein wacher
Verstand.
»Willst du mir nicht
endlich sagen, wo du gesteckt hast?«, meinte sie nach einer Weile des
Schweigens zu ihrer Mutter.
»Na ja, wie immer.« Ein
kurzes Achselzucken. »Überall und nirgendwo.«
»Du hast gehört, was
sich auf dem Weidenberg zugetragen hat?«
»Von dem tödlichen
Schauspiel in Teichdorf? Ha!« Die Krähenfrau durchschnitt die Luft des Raumes
mit einem Hieb ihrer Hand. »Jeder hat davon erfahren.«
»Ich habe Angst um
dich.«
Ihre Mutter rückte näher
an Bernina heran. »Die Welt ist
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