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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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begann sie, mit dem
leicht gebogenen Griffstück die Erde rund um den Kopf des Kindes aufzuwühlen
und zur Seite zu schaffen.
    Aus den Augenwinkeln sah
sie, wie der Offizier die Pistole auf sie lenkte. Erneut rief er etwas. Erneut
achtete sie nicht darauf.
    Bernina warf sich auf
die Knie und wühlte nun mit ihren bloßen Händen, genau wie auf der Lichtung im
Wald. Ein Schatten fiel auf sie, und sie blickte auf.
    Der Offizier stand vor
ihr, die Waffe erhoben. In aller Ruhe hielt Bernina den harten bohrenden Augen
stand – sie starrte in die Mündung, völlig unbeeindruckt, und dann grub sie
weiter. Doch ihr ganzer Körper spannte sich unwillkürlich an – sie wartete auf
das Krachen des Schusses, wartete darauf, dass sie von dem Geschoss getroffen
würde.
    Und dennoch grub sie
weiter, bis die Schultern des Kindes frei wurden, bis es sogar die Arme bewegen
konnte. Erst jetzt nahm sie überhaupt wahr, dass es sich um ein Mädchen handelte,
höchstens sechs oder sieben Jahre alt, mit Sommersprossen auf den tränennassen
Wangen und kupferfarbenen gewellten Haaren.
    Bernina kam wieder auf
die Beine, eine Bewegung, die ebenso ruhig und gefasst war wie ihr Blick. In
ihren Händen lag erneut der Stock, und von Neuem begann sie damit wild um sich
zu schlagen. Sie lief an dem Offizier vorbei, der sie auf einmal irgendwie
hilflos ansah. Kreuz und quer wirbelte sie über das Feld, von einem der Kinder
zum nächsten.
    Der
Stock zischte durch die Luft und scheuchte die Krähen auf. Einige der Vögel
wurden dabei von dem Holz getroffen. Sie krächzten laut und hoben sich einige
Fuß hoch in die flirrende Luft. Unablässig schlug Bernina auf sie ein, die
Krähen gewannen weiter an Höhe, immer mehr von ihnen, der Himmel füllte sich
wieder mit ihnen, und jetzt sah Bernina, dass endlich Bewegung in die Menschen
kam.
    Ohne sich noch von den
Soldaten mit den Musketen lähmen zu lassen, liefen Männer und Frauen zu den
Kindern, um sie aus der Erde zu befreien. Ein plötzlicher Windstoß wehte die
wimmernden Laute der Mädchen und Jungen über die Ebene. Keuchend blieb Bernina
mitten auf dem Feld stehen, das Haar ungebändigt vor ihrem Gesicht, über ihrem
Kopf die Krähen, die mit wilden Blicken auf sie herabstarrten.

Kapitel
2 Der Diener des Todes
     
    Sie dachte nicht darüber nach, was zuvor auf dem Weizenfeld
geschehen war. Sie dachte an gar nichts. Zumindest versuchte sie das.
    Nicht einmal Anselmo
ließ sie in diesen Augenblicken in ihre Gedanken, die einfach nur aus Leere
bestanden. Schweiß hatte sich von Neuem auf ihrer Haut ausgebreitet. Die Sonne
klebte als flirrender Feuerball beinahe senkrecht über ihr, als sie durch die
Wand des Waldes ins Freie glitt.
    Eine lange Zeit, fast
den ganzen Mittag, hatte sie allein auf der Lichtung verbracht. Nur um im Gras
zu sitzen und zu warten. Darauf, dass die Wucht des zuvor Erlebten nachlassen
würde.
    Diese
ungläubigen Blicke, die auf ihr geruht hatten, als sie auf das Feld gegangen
war. Diese unerträgliche Spannung, die sich jeden Moment in einem Ausbruch
tödlicher Gewalt entladen konnte. Doch der Offizier hatte nicht geschossen.
Ebenso wenig hatte er seinen Soldaten den Befehl gegeben, ihre Waffen
abzufeuern. Die Mädchen und Jungen waren befreit worden, ohne dass ein einziger
Blutstropfen vergossen worden war. Bevor Bernina das Feld verlassen hatte,
waren ihr wiederum ungläubige Blicke zugeflogen. Diesmal Blicke, in denen
Dankbarkeit aufleuchtete.
    Bernina hatte offenbar
etwas getan, womit die Soldaten niemals gerechnet hätten. Sie hatte sie überrascht,
völlig überrumpelt. Mit einem Frösteln machte sie sich klar, dass das wohl
nicht noch einmal gelingen würde.
    Überhaupt wurde ihr erst
nach und nach mit aller Endgültigkeit bewusst, dass sie ihr Leben riskiert,
dass sie es einfach aufs Spiel gesetzt hatte, als würde es ihr nichts bedeuten.
    Ist das etwa wirklich
so?, fragte sie sich in eigenartig hilfloser Stimmung.
    Die Spannung jener
geradezu unwirklichen Situation ließ endlich ein bisschen nach. Sie lief auch
wieder schneller, obwohl kein Grund zur Eile bestand. Und doch war da etwas,
das sie antrieb – wahrscheinlich nur der schlichte Wunsch, sich in die
Vertrautheit der eigenen vier Wände zurückzuziehen. Sich vor all dem verbergen
zu können, was so plötzlich über die Gegend hinweggeschwappt war. Die Gewalt,
die Angst, das Blut. Der Krieg war wieder da, offenbar mit seiner ganzen
früheren Kraft, als hätte er sich bloß ein wenig ausgeruht oder in

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