Die Sehnsucht der Krähentochter
sie, hatte sich aber gleich wieder in der
Gewalt. Durch die offene Küchentür beobachtete sie, wie Baldus sich das kurze
Stück über den Flur und hinein in die Küche schob. Er war völlig durchnässt.
Aus seinem Haar fielen Tropfen auf den Boden.
»Verzeihung,
dass ich so einfach hier hereinplatze.« In seinen Augen war ein aufgeregtes
Flackern.
»Ist schon wieder etwas
vorgefallen?«, fragte Bernina besonnen. Sie hatte das Gefühl, als könnte sie an
diesem Morgen nichts aus der Ruhe bringen. Gleichgültigkeit hatte sich ihrer
bemächtigt, ein Gefühl, das sie nicht an sich kannte und das ihr überhaupt
nicht gefiel.
»Der andere Knecht«, schnaufte
Baldus. »Und auch die Mägde. Sie sind fort.«
»Was meinst du damit?«
»Einfach fort.« Er
breitete entschuldigend die Arme aus, als wäre es seine Schuld. »Vorhin saßen
sie beisammen und haben miteinander geflüstert. Ich ging in den Stall zu Lisa,
um ihren Euter mit Schweinefett einzureiben, weil es letztes Mal so gut
geholfen hat.«
Lisa war eine Ziege, die
immer wieder krank wurde und dann nur wenig Milch gab.
»Und weiter?«, drängte
Bernina.
»Als ich zurückkam,
waren die anderen weg. Mit ihren Sachen. Rein gar nichts war von ihnen noch da,
nicht einmal ein Taschentuch.« Wieder die Geste mit den Armen. »Das kommt mir
komisch vor, wirklich komisch.«
»Vielleicht sind sie nur
…«, begann Bernina, verfiel dann aber in Schweigen. Nachdenklich blickte sie
auf den Fußboden.
»Ich habe so ein
seltsames Gefühl«, sagte Baldus. »Bitte erlauben Sie mir, ins Dorf zu gehen.«
»Was willst du dort?«
Er zuckte mit den
Achseln. »Ich weiß auch nicht recht. Mich einfach mal umhören.« Mit vagem Klang
stand das letzte Wort in der Luft.
Zögernd nickte sie. »Na
gut. Mir ist nicht klar, was das bringen soll.« Auch ihre Schultern hoben sich
kurz. »Aber wenn du meinst.«
Ein angespanntes Lächeln
huschte über sein Gesicht, und schon war er draußen. Durch das Küchenfenster
sah Bernina, wie er durch den Regen davonhumpelte.
Wieder fühlte sie die
Leere, die den Hof auf einmal umschlossen hielt. Das Prasseln erschien ihr
lauter als zuvor, die Gerüche des Gebäudes irgendwie verändert. Während sie
aufstand, um den Tisch abzuräumen, dachte sie kurz an die Knechte und Mägde, an
Baldus’ aufgeregten Gesichtsausdruck und dann wieder an ihre Mutter. Ich hätte
sie nicht so einfach gehen lassen sollen, sagte sie sich.
Während sie am Tag zuvor
das Hufgetrappel der beiden Pferde selbst auf einige Entfernung gehört hatte,
nahm sie diesmal gar nichts wahr. Kein Geräusch, nicht einmal einen Lufthauch.
Geschickt waren die Männer, lautlos wie Geister. Sie schlüpften ins Haus, dann
in die Küche, ohne dass die harten Sohlen ihrer Stiefel einen Laut verursachten.
Ihre Umhänge streiften nicht die Wände, ihre Hüte berührten nicht den niedrigen
Türrahmen.
Vier Hände in
Lederhandschuhen legten sich plötzlich auf Bernina, hielten sie fest,
überwältigten sie mit raschen Griffen. Ihre Handgelenke waren so schnell
gefesselt und ihre Augen im Nu mit einem schwarzem Leinenstreifen verbunden,
dass ihr gar keine Chance zur Gegenwehr blieb. Sie schrie nicht einmal auf,
ließ nur den Holzbecher fallen, der mit einem gedämpften Scheppern auf dem
gestampften Fußboden aufschlug.
Die Lederriemen, die
ihre Hände aneinander pressten, waren mit einem Seil verbunden. Daran wurde sie
nach draußen gezogen, wo der Regen auf sie platschte. Sie hätte nicht sagen
können, wie viele Männer es waren. Hart wurde an dem Seil gerissen. Das Haar
klebte nass wie ein schwerer Stoff an ihrem Kopf. Der Saum ihres Kleides
schleifte im Matsch, der sich über Nacht gebildet hatte.
Die Männer brauchten
sich nicht zu verständigen. Wortlos lief alles ab. Am Waldrand warteten die
Pferde, die Bernina riechen konnte. Leder ächzte, als sich die Männer in die
Sättel schwangen. Sie ritten los. Sofort ein weiterer harter Ruck am Seil und
Bernina blieb nichts anderes übrig, als ins Nichts loszurennen, sonst wäre sie
zu Boden gezerrt und hinter den Reitern hergeschleift worden.
Die Pferde folgten ihrem
Weg in leichtem Trab. Immer, wenn sie für Bernina zu schnell wurden, hielt man
die Tiere ein wenig zurück. Berninas Lungen wogten in ihrem Körper. Jeder
Schritt ins Nichts war eine einzige Anstrengung. Schweiß mischte sich auf ihrer
Haut mit Regenwasser. Einmal fiel sie hin, war aber sofort wieder auf den
Beinen.
Die Männer hatten sich
für die weniger beschwerliche, dafür
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