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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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gruppenweise beisammen, deutlich getrennt von den Fremden
mit den roten Umhängen, die sich an einer Ecke des Weizenfeldes postiert
hatten. Als Baldus ihr davon erzählt hatte, war es unglaublich gewesen. Jedoch
alles mit eigenen Augen zu sehen, trieb Eiseskälte in jede Faser von Berninas
Körper. Zwischen Menschen, die ebenso fassungslos wie sie waren, blieb sie
stehen.
    Das Feld war bekannt
dafür, dass es besonders stark von Krähen heimgesucht wurde. Niemals zuvor
jedoch von so vielen wie an diesem strahlend schönen Sommertag. Der Grund dafür
waren Kinder.
    Kinder, die bis über
ihre Schultern in das abgemähte Feld eingegraben worden waren. Nur die Köpfe
ragten noch aus der Erde heraus. Dunkles und helles, gelocktes und glattes
Haar. Die Gesichter waren gezeichnet von Angst. Von Todesangst.
    Einige waren so von
ihrer Furcht gepackt, dass sie nur stumm in die Weite starren konnten, andere
heulten, schrien, kreischten. Geräusche, die die Krähen nicht abschrecken
konnten.
    »Um Himmelswillen, warum
hilft denn keiner?«, entfuhr es Berninas trockenen Lippen.
    Niemand antwortete.
    Alle verfolgten gebannt,
wie sich die Krähen nahe den Kinderköpfen niederließen. Einige der Tiere
landeten auch direkt darauf, krallten sich in einen Haarschopf und lösten damit
weitere furchtbare Schreie aus, die über das Feld hinweggellten. Schnäbel
hatten begonnen, nach tränenden Augen zu picken.
    Eine Mutter wollte zu
ihrem Sohn rennen, doch Bernina sah, wie die Frau von ihrem eigenen Ehemann
zurückgehalten wurde. Er musste sie zu Boden ringen, lag schließlich mit seinem
ganzen Körpergewicht auf ihr.
    »Nicht!«, rief er, so,
dass alle ihn verstehen konnten. »Du weißt genau, was sie dann mit dir machen.
Willst du erschossen werden?«
    Die
Frau gab auf, vergrub ihr Gesicht in die Erde, und ihr Schluchzen war nur noch
eigenartig gedämpft zu hören.
    Entsetzte Blicke zuckten
zu den Männern mit den roten Umhängen. Jetzt erst nahm Bernina die Musketen so
richtig wahr, die die Fremden in den Händen hielten. Deren Mündungen waren auf
die Menge gerichtet. Nicht einmal drohend, aber mit einer so selbstbewusst zur
Schau getragenen Lässigkeit, dass keine Zweifel blieben. Von Egidius Blum
allerdings war nichts zu entdecken.
    »Wieso nur tun diese
Menschen das?«, fragte Bernina leise, immer noch völlig fassungslos.
    »Das sind keine
Menschen«, flüsterte eine Bauernfrau, die Bernina recht gut kannte.
    »Sie pressen alles aus
uns heraus«, sagte ihr Mann, der sich auf einen rohen Gehstock mit gebogenem
Endstück stützte. Er sprach ebenfalls betont leise, obwohl die Fremden viele
Schritte entfernt standen. »Alles, was sie kriegen können. Unser Essen, unsere
Vorräte. Und alles, was ihnen auch nur halbwegs wertvoll erscheint.«
    »Sei lieber still«,
mahnte jemand anderes aus der Menge.
    Doch als Bernina ihn
bittend ansah, fuhr der Mann fort: »Einige von uns haben angefangen, Schmuck,
Geld, Erbstücke zu verstecken. Aber die Männer haben es herausgefunden.«
    »Mein Gott!«, meinte
Bernina tonlos.
    »Die Kinder gehören zu
Familien, die im Verdacht stehen, irgendetwas von ihrem Besitz vergraben zu
haben. Auf diese Weise will man sie zwingen, die Verstecke zu verraten.«
    Plötzlich war da ein
Funke, der Berninas Körper durchzuckte, der die Eiseskälte in ihr brechen ließ
und in kochende Wut verwandelte.
    Diesmal war die Hand
Anselmos nicht da, die sie aufhielt wie auf dem Weidenberg. Diesmal war sie
ganz allein.
    Fast ohne dass es ihr
bewusst war, entriss sie dem Mann seinen Stock. Verwunderte Blicke lagen auf
ihr. Erst recht, als sie sich nun aus der entsetzten Menschentraube löste. Mit
kerzengerader Gestalt legte Bernina die letzten Schritte bis zum Feld zurück.
Die Krähen schrien, die Teichdorfer hielten den Atem an.
    Einer der Spanier setzte
sich ebenfalls in Bewegung. Offenbar handelte es sich um einen Offizier, auch
wenn er genau wie die übrigen gekleidet war. Entschlossen trat er vor, die
schwarzen Augen auf Bernina gerichtet. Er hatte keine Muskete bei sich, dafür
eine Pistole mit langem Lauf, der trichterförmig endete. Seine Stimme hallte
über das Feld, aber was er rief, darauf achtete Bernina nicht.
    Sie konzentrierte sich
auf das Kind, dem sie sich nun näherte und das ihr mit flehendem Blick
entgegensah. Berninas Hände hatten den Stock so fest gepackt, dass ihre
Fingerknöchel schmerzten. Sie wirbelte ihn durch die Luft, sodass sie zumindest
ein paar der Krähen in Aufregung versetzen konnte. Dann

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