Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
Vom Netzwerk:
mochten, konnten sie jedoch nicht erkennen. Aber sie konnten
nicht weit sein. Bilder des Vormittags jagten noch einmal durch Berninas
Gedanken. Ruckartig erhob sie sich, verfolgt von dem wachsamen Blick ihrer
Mutter, die sich nicht rührte.
    Bernina durchquerte die
Wohnküche und schob sich durch die noch offene Haustür. Geblendet vom grellen
Sonnenlicht, schützte sie die Augen mit der flachen Hand.
    Zwei Pferde. Eines davon
ohne Reiter, nur ein Packtier. Weiter vom Hof entfernt, als Bernina zuerst
angenommen hatte, standen sie auf dem Kamm eines mit hohem Gras bewachsenen
Hügels, der sich aus dem Wald schälte. Bernina betrachtete den einsamen Reiter,
und trotz des großen Abstands erkannte sie, dass auch er sie anblickte. Wieder
trug er den Lederwams, diesmal auch einen Hut, von dem eine Feder abstand.
    Sie erschrak nicht, als
sie plötzlich die Hand ihrer Mutter sanft auf der Schulter spürte.
    »Bernina, wer ist das?«
    »Der Henker.« Leise
sprach sie. »Und zugleich der Wolfsjäger.«
    »Was hat er vor?«
    Das Reitpferd tänzelte
auf unruhigen Beinen, doch der Mann hielt es im Zaum. Nach wie vor sah er von
dem Hügel hinab auf den Hof. Als würde er über etwas nachdenken.
    »Ich glaube«, erwiderte
Bernina schließlich, »er ist sich selbst nicht so sicher, was er eigentlich
will.«
    Auf einmal ließ er das
Pferd aufbäumen, die vorderen Hufe schraubten sich in die Höhe. Das Tier
wieherte. Er ließ es losgaloppieren, weg vom Hof, den Hügel hinab und hinein in
den Wald, aus dem er wohl herangeritten war. Das Packpferd zog er an einem
dünnen Seil hinter sich her. Und das Letzte, was Bernina von ihm sehen konnte,
war die wippende Feder seines breitkrempigen Hutes.
    »Merkwürdig«, flüsterte
Bernina.
    »Lass uns wieder
zusammen an den Kamin sitzen«, schlug die Krähenfrau vor.
    »Würde es dir etwas
ausmachen, schon einmal vorzugehen?«, fragte Bernina, ohne sie anzublicken.
»Ich wäre gern noch ein wenig allein.«
    »Wie du willst. Aber
dann sagst du mir endlich, was mit Anselmo ist.«
    »Da gibt es nichts zu
sagen.« Sie spürte eine Träne in ihrem Auge. »Außer, dass er weg ist.«
    »Was heißt weg?«
    »Auf und davon.«
    »Er kommt nicht zurück?«
    »Ich weiß es nicht.« Die
Träne rann an ihrer Wange hinab. »Ich weiß überhaupt nichts mehr.«
    »Ich erwarte dich am
Kamin. Dann reden wir.« Die Krähenfrau wandte sich ab und Bernina hörte noch,
wie sie vor sich hin flüsterte: »Und wir werden hören, was uns die blaue Krähe
mitteilen will.«
     
    *
     
    Über Nacht waren sie aufgezogen, nun hatten sie sich festgesetzt.
Wolken von düsterer bleigrauer Farbe, riesige zerrissene Gebilde, die sich mit
ihren scharfen Zacken ineinander verkrallten. Am folgenden Tag war kaum noch
ein Moment ohne Regen vergangen.
    Als dann von Neuem die
Dunkelheit aufzog, deutlich kühler als in der letzten Zeit, begleitet von
weiteren Wolken, hatte die Krähenfrau den Petersthal-Hof schon wieder
verlassen. Mit neuerlichen eindringlichen Warnungen an Bernina, niemals wieder
einem so törichten Gedanken nachzugeben wie auf dem Weizenfeld.
    Bernina blickte ihr
hinterher, wie sie davontippelte, mit diesen kurzen Schritten, noch immer
erstaunlich flink. Ihre Mutter hatte Heilkräuter gesammelt, die sie nun wie
gewöhnlich auf abgelegenen Höfen und in den umliegenden Dörfern gegen
Nahrungsmittel eintauschen wollte. Ein sonderbares Gefühl beschlich Bernina bei
dem Anblick der Krähenfrau, die dem heraufziehenden Abend entgegenschritt. Als
würde sie sie niemals wiedersehen.
    Erneut eine Nacht mit
unruhigem Schlaf und verstörenden Träumen, in denen Fangzähne von Wölfen nach
Bernina schnappten und Krähen übergroße Schnäbel in ihr Fleisch hineintrieben.
Sie meinte den Duft des roten Seidentuchs wahrzunehmen, intensiv,
überwältigend, er brannte in ihrer Nase. Auf einmal sah sie sich selbst, wie
von Ferne, blutüberströmt an einem Wegesrand liegen, die knurrende Wölfin mit
dem Silberrücken neben ihr, blauschwarze Vögel mit wildem Flügelschlag über ihr
in der Luft.
    Am
Morgen wurde sie von Regen geweckt, der auf das Dach trommelte, nicht besonders
heftig, aber in beständigem Rhythmus. Kurz darauf saß sie am Tisch in der
Küche, einen Becher Milch vor sich und ein paar Reste hart gewordenen Brotes,
das sie bereits vor einigen Tagen gebacken hatte. Sie verspürte keinerlei
Appetit. Die Leere des Hauses lastete stärker auf ihr, als sie es für möglich
gehalten hätte.
    Als
die Haustür aufsprang, erschrak

Weitere Kostenlose Bücher