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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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mit denen du dich immer so verbunden
gefühlt hast.
    Sie ließ sich wieder zu
Boden sinken. Nicht mehr nur entkräftet und erschöpft war sie, sondern
hoffnungslos. Tauchte Egidius Blum das nächste Mal auf, würde sie es kaum noch
schaffen, auch nur den Blick zu heben. Wann mochte er kommen? Gewiss würde er
nicht lange auf sich warten lassen.
    Irgendetwas drängte sich
in ihr Bewusstsein. Ein Geräusch, das sich mehrmals wiederholte. Ein leises
Geräusch, als würde etwas gegen die Wand des Turms geworfen, etwas, das weich
sein musste und den Aufprall dämpfte. Bernina blickte auf, aber in ihr war
alles abgestumpft. Allein der Gedanke daran, der Sache auf den Grund zu gehen,
schien sie noch mehr zu ermüden.
    Auf einmal flog etwas
durch das schmale Fenster und landete, zwei oder drei Schritte von ihr
entfernt, auf dem Boden. Auch wenn es unzählige solcher Beutel gab, dieses
kleine Säckchen aus abgewetztem dünnem Ziegenleder erkannte sie mühelos auf den
ersten Blick.
    Beinahe überraschte sie
sich selbst damit, wie schnell sie auf die Beine kam. Ein Spähen aus dem
Fenster, und sie sah gerade noch die flink davonhumpelnde Gestalt von Baldus,
der dann aber auf einmal an einer Ecke des Pferdestalls stoppte und sich zu ihr
herumdrehte. Seine wachen Augen erfassten sie, und mit einem raschen Wink wies
er in den Stall, dessen Tor ein Stück weit offen zu stehen schien. Dann war
nichts mehr von dem Knecht zu sehen.
    Ein trauriges Lächeln
huschte über Berninas Gesicht. Sie bückte sich und hob den Lederbeutel auf. Das
Gemisch aus Pfeffer und zerstoßenen Hagebuttenkernen, Baldus’ Schutz gegen
Raufbolde und Störenfriede.
    Noch einmal sah sie nach
draußen. Als hätte sie es gespürt: Von der Hauptstraße näherte sich Egidius
Blum. In seinen Händen wieder der Hanfsack, in respektvollem Abstand hinter ihm
der Soldat.
    Es rührte Bernina so
sehr, dass Baldus ihr helfen wollte. Aber dieser Beutel – was konnte er ihr
schon nutzen? Leider schien der Knecht nicht zu wissen, dass sie angekettet
war. Sie starrte auf den Eisenring, an dessen Rand ihr wundes, blutverkrustetes
Gelenk sichtbar wurde.
    Schritte erklangen. Die
beiden Männer kamen die Treppe herauf.
    Unbewusst drückte
Bernina mit der freien Hand das weiche Beutelleder – und fühlte etwas Festes
darin. Sie öffnete den Riemen, mit dem der Beutel zugebunden war, und griff
hinein. Zum Vorschein kam ein Schlüssel.
    Sie schluckte.
    »Habe ich dich etwa
unterschätzt, Baldus?«, sagte sie ganz leise.
    Der Schlüssel passte ins
Schloss des Eisenrings, und Berninas Handgelenk war befreit.
    »Wie um alles in der
Welt bist du nur an diesen Schlüssel gekommen, mein Freund?«
    Ja, es war wieder Leben
in ihr, und vor allem Wut und Trauer und Ungläubigkeit angesichts dessen, was
über sie hereingebrochen war. Sie dachte an ihre Mutter, und Tränen standen in
ihren Augen. Ihre Lippen bebten.
    Erneut griff sie in den
Beutel. Erst füllte sie die rechte, dann die linke Hand mit dem Pulver, bevor
sie den Beutel in eine Ecke warf.
    Der Schlüssel wurde ins
Türschloss geschoben.
    Bernina trat einen
Schritt zurück, genau vor die auf dem Boden liegende Kette mit dem Ring.
    Der Soldat kam wieder
als Erster herein, die Hand auf dem Degen, der noch in der Scheide steckte. Er
machte Platz und Blum war schon da, die Bastschuhe raschelten, die eisernen Gegenstände
im Sack schlugen laut gegeneinander.
    Das war der Augenblick.
Bernina stürmte voran, schleuderte das Pulver in die Gesichter der Männer,
denen nicht einmal Zeit blieb, überrascht dreinzublicken. Mit der Schulter
rammte Bernina den Pfarrer zu Boden, während sie mit einem schnellen Schritt an
dem Soldaten vorbei stürzte. Aus den Augenwinkeln nahm sie noch wahr, dass sich
beide die Gesichter rieben, dann sah sie nur noch die Treppe, die nach unten
führte, raus aus diesem Gefängnis. Keine Schwäche mehr in ihr, nur noch die
plötzliche Hoffnung, alles hinter sich lassen zu können.
    Mehrere Stufen auf
einmal nahm sie, auf der nächsten Ebene sah sie mit einem Seitenblick die
geöffnete Tür eines weiteren leeren Zimmers, das über ein großes quadratisches
Fenster verfügte. Hinter ihr polterten die Stiefel des Soldaten, und auch ohne
dass sie sich mit einem Blick vergewisserte, wusste sie, dass Blum ebenfalls
die Verfolgung aufgenommen hatte.
    Sie rannte in das
Zimmer, riss die Tierhaut, die hier noch unversehrt war, aus dem Rahmen und
schob sich durchs Fenster.
    »Alarm!«, ertönte die
Stimme des Pfarrers.
    Der

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