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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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war eindeutig: zum Weidenberg.
    Bernina drehte sich zu
Egidius Blum um. »Ich habe heute Schreie gehört.«
    »Morgen werden es Ihre
eigenen sein.«
    Die Flamme zuckte. Der
Soldat hielt die Kerze und stand stumm und reglos da wie eine Statue, genau wie
immer.
    »Ich bin bereit«, sagte
Bernina zu Blum.
    Für einen Augenblick
schien es, als versuche der Pfarrer Worte zu unterdrücken. Doch sie sprudelten
aus ihm hervor, ohne dass er sie aufzuhalten vermochte: »Ich habe vom ersten
Tag an die Verachtung gespürt, mit der Sie mir begegneten.«
    Überrascht
sah sie ihn an. »Worauf wollen Sie hinaus?«
    »Auf
gar nichts will ich hinaus.«
    Etwas bewegte ihn, etwas
setzte diesem Menschen zu, aber Bernina vermochte sich nicht vorzustellen, was
das sein konnte.
    »Ich habe Sie nicht
verachtet«, sagte sie nur. »Jedenfalls früher nicht.«
    »Früher nicht?
Vielleicht stimmt das sogar.« Er schüttelte den Kopf. »Aber bei dem Kirchfest.
Da habe ich die Verachtung in Ihrem Blick gesehen.«
    »Schon vorher hätte sie
Ihnen auffallen können.« Sie erhob sich und nahm dabei wieder die Schwäche
wahr, die sich in ihrem Körper ausgebreitet hatte. »Und zwar auf dem
Weidenberg.«
    Blum erwiderte nichts
darauf.
    »Sie glauben, nach den
Richtlinien Gottes zu handeln. Aber ich denke, Sie sind einfach nur blind. Und
Blinde wie Sie sind gefährlich. Sie sorgen überall im Land dafür, dass arme
unschuldige Menschen gequält werden. Blinde wie Sie bringen den Tod.«
    Mit einem Kopfnicken
bedeutete Blum dem Soldaten, aus dem Zimmer zu gehen. Er selbst blieb noch kurz
im Türrahmen stehen. Sein Blick suchte ihren. »Sehen Sie zum Weidenberg. Und
beten Sie! Für sich und für Ihre Mutter.« Er setzte eine Pause. »Denn Ihre
Mutter wird dort oben auf dem Berg sein. Ich habe heute den ganzen Morgen mit
ihr gesprochen. Sie hat es zugegeben.«
    In Berninas Kopf drehte
sich alles, sie war unfähig, auch nur ein Wort zu erwidern.
    »Sie hat eingestanden«,
fuhr Blum mit starrer Stimme fort, »dass der Teufel von ihrer Seele Besitz
ergriffen hat. Dann habe ich sie nach Ihnen gefragt. Aber von da an hat sie
geschwiegen. Ab heute Nacht wird sie für immer schweigen.«
    Die Tür fiel ins
Schloss. Zurück blieb eine Stille, die in Berninas Ohren wie Donner schallte,
die alles unter sich begrub.
     
    *
     
    Es war nicht das Morgengrauen, das sie weckte. Nicht dieses
merkwürdig graue Licht, das durch das enge, rechteckige Fenster ihres
Gefängnisses zwängte, nicht der Hahnenschrei irgendwo im Dorf, auch nicht die
Glocke, die im Kirchturm schlug. Es war diese Gestalt, die sich in den Raum
schob, die sich ihr näherte, lautlos, als würde sie ein Stück über dem Boden
schweben.
    Verwirrt sah Bernina
auf. Sie versuchte, diesen dumpfen traumlosen Schlaf abzuschütteln, fühlte die
eingetrockneten Tränen in den Augenwinkeln, erinnerte sich an den Moment, als
sie beim Blick in die Flammen auf dem Berg am Ende ihrer Kräfte
zusammengesunken war.
    Die Gestalt war von
dunklen Stoffen eingehüllt, ihre Umrisse verschwammen im Nichts dieses Raumes.
Nur ihre Hand war klar zu erkennen, weiß stachen krumme Finger hervor.
    Die Hand schwebte kurz
vor Berninas Gesicht, legte sich dann sanft auf ihre Stirn, die Berührung
rissiger, kalter, toter Haut, und die Stimme der Krähenfrau ließ die Wände des
Zimmers erzittern: »Was auch geschehen mag, ich werde immer bei dir sein.«
    Berninas Augen weiteten
sich, und in dem Moment, als ihr Blick endlich völlig klar wurde, hatte sich
die Gestalt aufgelöst. Sie war wach, und sie war allein.
    Der Holzbecher stand
noch da, wo sie ihn abgestellt hatte. Sie griff danach, überprüfte ihn, doch
kein einziger Tropfen Wasser war an seinem Rand haften geblieben. Stille.
Immerzu diese Stille.
    Es wurde ein wenig
heller. Ein Schwall frischer Morgenluft wehte ins Innere des Turmes. Bernina
füllte ihre Lungen und plötzlich meinte sie, einen Geruch wahrzunehmen, der ihr
den Atem raubte. Der Geruch kalter, nasser Asche. Oder bildete sie sich das
bloß ein?
    Ganz kurz nur erhob sie
sich, um einen Blick auf die andere Seite des Dorfes zu werfen, wo sich der
Weidenberg dem trüben Himmel entgegen wölbte. Sie sah, was sie gar nicht sehen
wollte. Eine kleine hügelige Landschaft aus Asche, zerklüftet von Windböen.
Regen in der Nacht hatte die Feuer erstickt. Die Feuer des Todes.
    Ich konnte nicht bei dir
sein, Mutter, dachte Bernina. Allein warst du, ganz allein in deinen letzten Minuten.
Einsam bist du gestorben, wie die Krähen,

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