Die Sehnsucht der Krähentochter
hinterlassen.
Ein paar Sonnenstrahlen
stahlen sich durch das Grau der Wolken, und die plötzliche Wärme schien Bernina
fast ein wenig benommen zu machen. Sie sank nach hinten, ihre Lider wurden
schwer, und sie strengte sich an, ihre Augen offen zu halten. Vergeblich. Eine
Decke aus Schlaf legte sich auf sie, sie war wehrlos dagegen, und das war ihr
egal, einfach nur vollkommen egal. Als sie wieder erwachte, erschrak sie
heftig.
Ein großer Schatten, der
auf sie fiel. Die grünen Augen, die sie prüfend musterten.
Es dauerte, bis sie
wusste, wo sie sich befand, bis sie sich an das erinnerte, was passiert und wer
bei ihr war.
»Da
bin ich ja beruhigt«, sagte der Mann mit ironischem Unterton. »Ich dachte
schon, Sie würden hundert Jahre schlafen.« Mit einem knappen Nicken deutete er
auf etwas neben ihr.
Zögernd
richtete sie sich auf. Im Gras lagen ein Trinkbeutel aus Leder und auf einem
kleinen Stofftuch Stücke getrockneten Fleisches, auch etwas Brot und ein Apfel.
»Danke«,
sagte sie, und dieses eine Wort musste ihre Kehle geradezu hinaufkriechen. Sie
trank ausgiebig.
»Nicht zuviel«, meinte
er, »sonst werden Sie Magenschmerzen bekommen.«
Sofort legte sie den
Trinkbeutel zur Seite. Sie griff nach dem Fleisch. Sein Geschmack füllte ihren
Mund, ihren ganzen Körper.
»Mein Gott, habe ich
einen Hunger«, flüsterte sie entschuldigend. Es war ihr peinlich, wie hastig
sie einen Bissen nach dem anderen verzehrte.
»Kein Wunder«,
antwortete er bloß.
Bei einem Blick auf die
Pferde stellte sie fest, dass er sich um den Hengst, den sie geritten hatte,
gekümmert haben musste. Das Tier war abgerieben und gewiss auch getränkt und
gefüttert worden. Es sah wieder so gut und frisch aus wie in jenem Moment, als
Bernina es zum ersten Mal in dem Stall erblickt hatte.
Unwillkürlich musste sie
an Baldus denken. Wie hatte er es geschafft, an den Schlüssel zu kommen? Hoffentlich,
bangte sie um den Knecht, hat niemand bemerkt, was er getan hat. Hoffentlich
bist du in Sicherheit, kleiner mutiger Mann! Und sie dachte an ihre Mutter.
Ihre ganze Welt war zerstört. All das, was sie aufgebaut hatte, was ihr Herz
schlagen ließ. In Trümmern lag es vor ihr. Egidius Blums Stimme schwirrte
wieder durch ihre Gedanken. Enteignung. Der schwere Weg, der leichte Weg. Von
heute Nacht an wird Ihre Mutter für immer schweigen.
Ein weißes Rüschentuch,
das wie verloren in der großen Männerhand lag, erschien vor ihrem Gesicht.
»Für die Tränen«, meinte
der Wolfsjäger leise.
Sie nahm das Tuch und
trocknete sich damit die Augen.
»Danke«, sagte sie nach
einem Räuspern.
»Sie haben einiges
durchgemacht.« Sein Blick tastete nicht allzu unauffällig über die Stellen
weißer Haut, die unter Berninas zerrissenem Kleid aufschimmerten.
Bernina nickte. Er
schien in sie hineinsehen zu können, und das gefiel ihr nicht. Mit ihrer Trauer
wollte sie allein sein, sie ging ihn nichts an. Ohne ihn allerdings …
Sie setzte sich auf und
atmete tief ein. Neue Kraft, das war es, was sie brauchte. Auch wenn sie nicht
die geringste Ahnung hatte, wie es weitergehen sollte.
Mit gekreuzten Beinen
saß der Wolfsjäger im Gras. Er beobachtete sie weiterhin ziemlich ungeniert,
schwieg aber dabei.
»Danke nochmals«, sagte
sie und hielt ihm das Rüschentuch hin.
»Behalten Sie es ruhig.«
Sie legte das Tuch neben
dem Apfel ab, den sie nicht angerührt hatte. »Ich meine natürlich nicht nur für
das Tuch und das Wasser und das Essen.« Ihr Blick ruhte offen auf ihm. »Ich
meine für alles. Sie haben mich gerettet. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen.«
Mit der Hand strich er
kurz über seinen wilden, bis hinunter zum Kiefer wuchernden Schnurrbart. »Es
passt Ihnen nicht, dass ich es war.« Ein Lächeln umspielte seinen Mund. »Dass
ausgerechnet ich Ihnen beigestanden habe. Der Diener des Todes. Ist es nicht
so?«
Ohne sich von seiner
selbstgewissen Stimme einschüchtern zu lassen, sah sie ihn an. »Schon möglich.«
Er lachte auf. »Nehmen
Sie’s mir bitte trotzdem nicht übel.«
»Mein Dank war
aufrichtig«, betonte Bernina. »Aber verstehen kann ich Sie wirklich nicht. Sie
verschonen eine Wölfin und schrecken gleichzeitig nicht davor zurück, Menschen
mit den eigenen Händen in den Flammentod zu schicken.«
»Ja, die Wölfe. Klingt
komisch, aber irgendwie habe ich sie schätzen gelernt. Sie sind Jäger und sie
töten, ich weiß. Aber haben Sie jemals einen Wolf richtig angesehen? Diese
Wölfin mit dem Silberrücken war etwas ganz
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