Die Sehnsucht der Krähentochter
Soldat stürmte in
dem Augenblick in den Raum, als Bernina sprang.
Ein stechender Schmerz
durchzuckte ihre Knöchel, als sie auf dem nassen Kopfsteinpflaster aufkam. Doch
sie achtete nicht darauf, rannte schon wieder weiter, froh darüber, sich nichts
gebrochen zu haben, das nächste Ziel vor Augen.
Das Keuchen des Soldaten
konnte sie hinter sich hören – also war auch er gesprungen. Blum allerdings
schien die Verfolgung aufgegeben zu haben. Wieder schrie er »Alarm!«, aber
seine Stimme klang weit entfernt. Möglicherweise stand er noch am Fenster.
Bernina hatte keine
Gelegenheit, darauf zu achten. Sie lief, so schnell ihre Füße sie trugen, lief
wie niemals in ihrem Leben. Durch das Tor, hinein in den Pferdestall. Jemand
hatte die Tiere der Soldaten an den Vorderbeinen mehrfach zusammengebunden. Nur
bei einem nicht, einem kurzbeinigen, äußerst kräftigen Hengst, dem auch schon
Zügel und Sattel angelegt worden waren.
Baldus, du bist
großartig!, hämmerte es in Berninas Kopf, als sie sich auf den Pferderücken
stemmte. Sie schlug dem Tier die Hacken in die Seiten, es bäumte sich auf, aber
es gelang ihr, den temperamentvollen Hengst im Griff zu halten.
Sie galoppierte los, und
das Pferd überrannte den heranstürzenden Soldaten, dessen Degen in hohem Bogen
durch die Luft flog. Als die Waffe scheppernd aufs Pflaster schlug, hatte
Bernina schon ein ganzes Stück zurückgelegt.
Jetzt
sah sie den Pfarrer. Er stand tatsächlich am Fenster des Turmes, doch er gab
keinen Alarm mehr, sondern bohrte bloß seinen merkwürdigen Blick in Berninas
Gesicht.
Soldaten erschienen vor
dem Gasthaus, aber Bernina preschte durch sie hindurch. Sie fühlte die Kraft
des Tieres unter dem Sattel pulsieren. Ein Schuss ertönte, doch die Kugel
verfehlte sie.
Vielleicht war es
Zufall, vielleicht besaß Baldus auch ein Gespür für Pferde, von dem sie nichts
gewusst hatte – auf jeden Fall hatte er die richtige Wahl getroffen. Der Hengst
jagte durch das Dorf, als hätte er seit Langem auf genau diesen Moment
gewartet.
Als sie die Mitte der
Hauptstraße erreichte, auf einmal von vielen neugierigen Augen verfolgt, warf
Bernina einen Blick zurück, und was sie sah, gefiel ihr überhaupt nicht. Die
Soldaten hatten ihre Pferde schneller voneinander getrennt, als es ihr lieb
sein konnte. Schon saßen sie in den Sätteln, schon waren sie hinter ihr her.
Bernina duckte sich tief
über die lange, wirbelnde Mähne des dunkelbraunen Hengstes. »Schneller!«,
zischte sie, als könnte er das Wort verstehen. Mit den Zügelenden hieb sie auf
seinen Hals ein. »Schneller!«
Am Ortsausgang hatten
die Soldaten noch nicht aufgeholt. Der Hengst preschte mit all seiner
angestauten Kraft weiter. Sie lenkte das Tier in Richtung des Waldes, den sie
besser kannte als die Fremden hinter ihr. Über ihr eben noch der zerklüftete
Himmel, dann die Dunkelheit der Bäume. Zwischen Büschen, Kiefern und Rottannen
hindurch, immer weiter, immer weiter, immer noch schnell. Geistesgegenwärtig
wich Bernina mit dem Kopf den Ästen und Zweigen aus.
Sie blickte nach hinten
und stellte bestürzt fest, dass der Weg, den sie genommen hatte, ihr keinen
Vorteil brachte. Mit Geschick und der Erfahrung vieler Jahre auf Pferderücken
ritten die Verfolger durch den Wald. Auch ohne Sattel, nur mit dem Druck ihrer
Schenkel und einer Hand in der Mähne ihrer Tiere, während die andere Muskete
oder Degen hielt. Ihnen war es sogar gelungen, den Rückstand zu verringern.
»Schneller!«
Die Bäume standen nicht
mehr so dicht, der Boden wurde welliger, es ging hinauf und hinunter, Fontänen
schäumender Flüssigkeit spritzten aus dem Maul des Pferdes. Und immer weiter
durch den endlosen Wald, über Kiefernnadeln und Wurzelstränge und
Dornensträucher. Mit einem Sprung überwand Berninas Hengst einen Bach. Der Petersthal-Hof
war nicht mehr fern, jeder Baumstamm schien ihr vertraut. Bei einem Blick über
die Schulter merkte sie allerdings, dass es auf einmal nur noch zwei Männer
waren, die hinter ihr her preschten.
Die anderen sind zum
Hof!, schoss es Bernina durch den Kopf.
Sie war sich sicher,
geradewegs in eine Falle zu reiten. Heftig riss sie an den Zügeln, um die
Richtung zu ändern. Das Pferd reagierte rasch und ohne an Geschwindigkeit
einzubüßen. Mittlerweile war sein ganzer Hals von weißem Schaum bedeckt.
Die beiden Spanier
rückten wieder näher an sie heran. Bernina ritt einen Hügel hinauf, und diesmal
schaffte sie es nicht, einem der tief herabhängenden, von
Weitere Kostenlose Bücher