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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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plötzlich
setzte er mit veränderter, leiserer Stimme hinzu: »Sie haben es sich gewiss
schon gedacht, aber Sie sind bereits enteignet worden.«
    »Was?«, sagte sie dumpf.
Die letzten Worte konnte sie kaum erfassen.
    »Es geht um Ihre Seele.
Daran sollten Sie von jetzt an denken. Ihre Seele ist es, die es zu retten
gilt.«
    »Mein Besitz.« Sie
musste Luft holen, hatte auf einmal das Gefühl zu ersticken. »Mein Hof, meine
Ländereien …«
    »Es
geht um Ihre Seele«, wiederholte er stoisch. »Nur um Ihre Seele. Lassen Sie
nicht zu, dass der Teufel sie behält.«
    »Bereits vom ersten
Moment an ist es nicht um meine Seele gegangen.«
    »Mir schon!«, schrie
Blum nun fast. Als wäre er es, den man eingesperrt und in die Enge getrieben
hatte. »Das müssen Sie mir glauben.«
    »Warum tragen Sie
eigentlich immer so ärmliche Gewänder?« Mit vernichtendem Blick sah sie ihm in
die Augen. »Ihre Bescheidenheit ist ebenso falsch wie der Kampf für Ihren
Glauben.«
    »Für Gott zu kämpfen,
kann nicht falsch sein.«
    Bernina
drehte sich einfach um und starrte aus dem Fenster. Sie hörte, wie er seine
Folterinstrumente wieder in den Sack verstaute. Für den Moment reichte es ihm
also, sie nur präsentiert zu haben. Bei seinem nächsten Besuch würde es nicht
dabei bleiben. Ohne sich noch einmal umzudrehen, wartete sie ab, bis die beiden
Männer sie wieder allein ließen. »Wir werden unser Gespräch fortsetzen«,
zischte der Pfarrer noch, ehe er die Tür zuwarf und abschloss.
    Mittlerweile hatte
Bernina solange am Fenster gestanden, dass ihre Beine wehtaten. Hunger und
Durst quälten sie immer weiter. Ein schwarzer Streifen am Horizont leitete das
Ende des Nachmittags ein, der Abend war bereits dabei, in die Nacht
überzugehen. Bernina dachte an ihre Mutter, auch an Baldus. Und an Anselmo. Und
außerdem noch immer an Egidius Blums Stimme, als er von der Enteignung
gesprochen hatte. So eigenartig es ihr auch vorkam, aber fast hatte sie den
Eindruck gehabt, es wäre ihm unangenehm gewesen, diese Angelegenheit
anzusprechen. Blum war ein Eiferer, zutiefst überzeugt von dem, woran er glaubte.
Aber da war auch etwas anderes an diesem Mann, etwas, das Bernina noch nicht
entschlüsselt hatte.
    Sie drehte sich um und
presste ihren Rücken an die Wand. Langsam ließ sie sich daran hinabrutschen,
bis sie von Neuem auf dem Heu hockte. Unbändiger Hunger, unbändiger Durst. Die
gegenüberliegende Wand verschwamm auf einmal im Dunkel vor ihren Augen, und sie
merkte nicht, wie sie in den Schlaf hinüber glitt, völlig erschöpft, ihr Körper
ebenso wie ihr Geist.
    Diesmal keine Träume.
Nichts als Schlaf. Plötzlich jedoch Geräusche. Ein metallisches Klirren.
Bernina hörte ihr eigenes kehliges Stöhnen, sie sehnte sich wieder nach der
Stille von eben – und schlug doch die Augen auf.
    Mit der Hand wischte sie
sich über das Gesicht. Ihre Augen waren ganz trocken. Die Dunkelheit um sie
herum war nicht vollkommen, wie ihr jetzt erst bewusst wurde. Da war ein
Lichtstrahl, dort bei der Tür. Von einer Kerze in einem Halter, der in der Hand
eines Mannes ruhte.
    Der Soldat mit der
kräftigen Figur.
    Endlich war sie richtig
wach.
    Und jetzt erst erkannte
sie die Umrisse von Egidius Blum, der sich in der finstersten Ecke des Raumes
aufhielt. Mit seinem Zeigefinger wies er auf einen Gegenstand, der neben ihr
abgestellt worden war. Ein großer Holzbecher mit Henkel.
    Auch wenn Bernina sich
zuvor geschworen hatte, sich nicht die geringste Blöße zu geben – sie konnte
sich nicht zurückhalten. Sie riss den Becher an die Lippen und trank das
Wasser, das trübe und abgestanden schmeckte – und das ihr dennoch einen Moment
lang köstlicher erschien als alles, was sie in ihrem Leben geschmeckt hatte.
    Unter Blums
konzentriertem Blick leerte Bernina den Becher, dann stellte sie ihn achtlos
beiseite.
    »Ich hatte Ihnen ja
gesagt, wir würden unser Gespräch fortsetzen.« Er räusperte sich. »Leider
müssen wir das auf morgen verschieben. Jetzt warten andere Aufgaben auf mich.«
Sein Blick wanderte kurz zu dem Fenster. »Hören Sie das?«
    Ein leises monotones
Brummen. Bernina erhob sich, ihr Mund noch nass vom Wasser. Die Kette spannte.
Sie spähte nach draußen und sah trotz der Dunkelheit den Zug der Menschen, der
sich die Hauptstraße entlang bewegte, ein riesiger dicker Wurm, beschienen von
einigen Fackeln. Sohlen schleiften über nassen Boden. Unterdrücktes Gemurmel
war zu hören, das schließlich verebbte.
    Die Richtung, die der
Zug nahm,

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