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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Hinein in den Wald, noch fast den ganzen
Vormittag, dann aber hinaus ins Freie der Ebenen, auf denen sich Felder bis zum
Horizont hinzogen. Ein weiterer jener grauen Tage, zwar kein Regen, aber auch
kaum ein Sonnenstrahl. Sie folgten den schmalen, schlammigen Wegen, die die
Felder durchzogen. Das Packpferd lahmte tatsächlich ein wenig, und sie achteten
darauf, dass sie es nicht überanstrengten. Die Gefahr durch die Männer mit den
roten Umhängen schien gebannt zu sein.
    Im Gegensatz zum frühen
Morgen redeten sie wenig miteinander. Bernina hatte den Eindruck, dass bei
ihrer Unterhaltung viele Erinnerungen in Nils Norby geweckt worden waren, denen
er weiterhin nachhing.
    Es war noch nicht
Mittag, als sie die Straße erreichten, die nach Ippenheim und von dort nach
Offenburg führte. Sie war eine der wichtigsten Verbindungen der gesamten
Gegend. Auf ihr gab es mehrere westliche Abzweigungen nach Frankreich, von wo
sich feindliche Armeen heranschoben. Dass sie der Stadt bereits nahe gekommen
waren, merkten sie schnell. Im Schutz der Wälder war es noch gewesen, als wären
sie die beiden einzigen menschlichen Wesen weit und breit – jetzt füllte sich
die Landschaft mit immer mehr Leuten.
    Alle zog es in Richtung
Ippenheim, alle sehnten sich nach einem Ort, an dem es einfacher war, diese
Tage mit heiler Haut zu überstehen. Durchreisende, Händler und Schutzsuchende,
die von abgelegenen Höfen oder kleinen Siedlungen kamen.
    »Der Krieg ist wieder
da.« Mit Grimmigkeit stieß Nils Norby die Worte aus und drehte sich im Sattel
zu Bernina um. »Er scheucht die Menschen auf wie du die Krähen auf diesem Feld.
Er treibt sie vor sich her wie ein Jäger. Als würde er sie verspotten. Sieh sie
dir nur an, Bernina. Wie Ameisen sind sie. Und alle strömen sie in die Stadt.
Ich war noch nie dort, aber ich nehme an, Ippenheim wird aus allen Nähten
platzen.«
    Sie reihten sich ein,
und Berninas Blick wanderte über die Menschen, die mal schneller, mal langsamer
dem Verlauf der Straße folgten und gelegentlich eine Rast einlegten. Da waren
Bauern, den Rücken gebeugt von Säcken, die prallvoll mit Rüben waren. Tote
Hennen schaukelten an Lederbändern von Hüften. Fuhrwerke drängten sich Rad an
Rad, die Achsen quietschten unter den Ladungen, die aus Getreide, Holz oder
einmal auch italienischem Wein bestanden. Ein Händler transportierte in seinem
Planwagen Glaswaren und Gemälde.
    Einige Landsknechte mit
Hellebarden, Piken und Musketen mischten sich in die Menge, ihre bunten
geflickten Pluderhosen stachen aus den grauen und braunen Gewändern heraus, in
denen Handwerksgesellen und Bauern unterwegs waren. Doch rote Umhänge und
misstrauische schwarze Augen waren für Bernina glücklicherweise nirgendwo
auszumachen.
    Ein Postreiter
galoppierte auf einem Apfelschimmel vorbei und spritzte Dreck auf. Einige
Bettelmönche, ein paar Bettlerinnen in zerfetzten Stoffen, eine Gruppe von
Tagelöhnern mit ungewissem Gesichtsausdruck. Hunde, die kläffend zwischen den
Beinen umherrannten.
    Dann am Horizont die
Silhouette der Dächer und Türme jener Stadt, in der Bernina zuletzt vor Jahren
gewesen war, damals noch mit Anselmo und der bunten Gauklertruppe. Auch in
jenen Tagen hatte der Krieg sein schlimmstes Gesicht gezeigt. Dass sie
Ippenheim unter solch schweren, merkwürdigen Umständen wiedersehen würde, hätte
sie wohl kaum für möglich gehalten.
    Größer wirkte die Stadt,
mächtiger, inzwischen von einer Mauer geschützt, um die sich ein Wassergraben
zog. Am Tor sah man bereits Wachsoldaten, die zu den kaiserlichen Truppen
gehörten und alle Ankommenden kontrollierten. Pferdehufe dröhnten auf der
Brücke über dem Graben. Spatzen pickten im Unrat, den man am Wegesrand
losgeworden war. Die Soldaten gähnten und versuchten schon von Weitem
verdächtiges Gesindel auszumachen, dem der Zugang zur Stadt verweigert werden
sollte. Trotz des Schutzes, den die Gebäude versprachen, fühlte Bernina sich
auf einmal unwohl. Sie wusste nicht, weshalb. Worte erklangen in ihrem Kopf:
Meide die Menschen, meide die Städte.
    Unwillkürlich blickte
sie sich um, aber nichts Auffälliges war zu entdecken.
    Von jetzt an ging es
noch wesentlich langsamer voran. Die Kontrollen zogen sich dahin, schluckten
die Zeit. Es war noch recht weit bis zur Brücke, mit Sicherheit mehrere Hundert
Meter. Der starre leblose Himmel ließ ein paar verlorene Tropfen auf die
Wartenden herabregnen.
    Bernina war noch immer
beschäftigt damit, den Anblick all der Menschen in

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