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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Stadt
weitere Gefahren warten mochten. Aber im Moment schien es kein anderes Ziel zu
geben. Vielleicht würde sich dort etwas ergeben, aus dem sie neue Hoffnung
schöpfen konnte.
    Der
Mann nahm ihr die Schale ab. »Kindchen, Sie waren zwei Tage ohnmächtig. Und wir
sind schon weit weg von der Stelle, wo ich auf Sie stieß.«
    Erst
brachte sie kein Wort hervor. »Zwei Tage?«, wiederholte sie dann stumpf. »Aber
… warum haben Sie mich nicht nach Ippenheim gebracht? Wir waren doch ganz in
der Nähe und …«
    »Ippenheim, Ippenheim«,
unterbrach er sie bissig. »Ich kam ja von dort und wollte ganz bestimmt nicht
wieder hin. Da war die Hölle los. Überall Diebesgesindel. Ich war froh, dass
man mir nicht den Wagen unter meinem alten Hinterteil weggeklaut hat. Zurück nach
Ippenheim! Nur wegen einem ungeschickten Vögelchen wie Ihnen!«
    »Entschuldigung.« Etwas
kleinlaut klang ihre Stimme. »Ich hätte mich lieber bei Ihnen bedanken sollen,
anstatt mich zu beschweren.«
    Er winkte ab. »Was
soll’s. So sind sie, die Frauenzimmer.«
    »Ich wünschte, ich
könnte das gutmachen.«
    »Keine Sorge.« Zum
ersten Mal zeigte sich so etwas wie ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Dieser
Wunsch wird in Erfüllung gehen.«
    Verwundert sah sie ihn
an.
    »Ich weiß auch schon,
wie Sie das wieder gutmachen können, Kindchen.«
    Unwillkürlich
erschauerte sie.
    »Hi, hi, hi. Aber jetzt
geht’s weiter. Ich will vor Einbruch der Dunkelheit in Braquewehr sein. Sonst
verspeisen uns die Wölfe noch zum Abendessen.«
    »Braquewehr? Aber das
liegt doch im Elsass.« Bernina biss sich auf die Unterlippe. »So weit? Dann
sind wir ja in Frankreich.«
    »Richtig, Kindchen. Die
Elsässer halten’s mit den Franzosen. Aber eigentlich halten sie’s vor allem mit
sich selbst. Sie wollen am liebsten ihre Ruhe und beten dafür, dass die Armeen
sich nicht gerade in ihrer Nähe die Köpfe einschlagen.«
    »Was haben Sie gemeint,
als Sie sagten, Sie wüssten schon, wie ich …«
    »Im Leben ist nichts
umsonst«, fiel er ihr wieder ins Wort. »Eine Hand wäscht die andere.« In seinem
Grinsen steckte abermals etwas Boshaftes. »Außerdem dachte ich, Sie hätten
gewiss nichts dagegen, für eine Weile unterzutauchen.«
    Plötzlich zog er die
Decke zurück, und Bernina zuckte vor Schreck zusammen. Ein spitzer Finger wies
auf ihr Kleid – auf das Einschussloch mit den angesengten Rändern.
    »War das etwa eine
Kugel, die fast Ihre hübsche Haut erwischt hätte? Hi, hi, hi.« Er griff nach
ihrer Hand und hob sie an. »Und was sind das für Abschürfungen am Gelenk?
Stammen die von einem Eisenring?«
    Bernina
entzog ihm die Hand.
    »Hören
Sie zu, Kindchen«, fuhr er fort, »wenn Sie irgendetwas angestellt haben, soll
es mir egal sein. Aber ich könnte Hilfe gebrauchen. Wenigstens für eine Weile.
Die Armee hat mir meine Gesellen genommen, und meine Magd ist auf und davon.
Und in Braquewehr …« Er stockte. »Und in Braquewehr gibt es sowieso zu viele
Dummköpfe, die zu nichts zu gebrauchen sind. Also? Was denken Sie, Kindchen?«
    Zögernd
nickte sie. Auch wenn sie den Drang verspürte, so rasch wie nur möglich diesen
Planwagen zu verlassen, sagte sie: »Wie Sie meinen: Eine Hand wäscht die
andere.«
    Er
stieß sein meckerndes Lachen aus. »Da hatte ich also recht: Ihnen kommt es ganz
gelegen, für eine Weile aus Ihrer Gegend zu verschwinden?«
    »Sie haben mir immer
noch nicht gesagt, wie Sie heißen.«
    »Ich bin Meister Anton
Schwarzmaul. Ein Mann aus dem Kaiserreich, den es bis ins Elsass verschlagen
hat.«
    »Mein Name ist Bernina.«
    »Und Ihr Familienname?«
    »Belassen wir es bei
Bernina.«
    »Hi, hi, hi. Abgemacht,
Kindchen.«
    Nicht viel später stand
Bernina zum ersten Mal auf. Sie legte die Decke über Kopf und Schultern und
schob sich zu dem Mann auf den Kutschbock. Er rückte wortlos zur Seite und
trieb den Esel, der den Wagen zog, mit einem Schnalzen der Zunge an.
    »Es wird bald dunkel«,
sagte Bernina.
    »Ja, aber unser Weg ist
nicht mehr allzu weit.«
    Sie durchquerten
bergiges, waldreiches Land mit abgeschiedenen Tälern, nicht unähnlich jener
Gegend, in der Bernina aufgewachsen war. Schließlich wurde der schnell
dämmernde Abendhimmel in der Ferne von Dächern gekratzt. Als würde es sich vor
den Wirren und Gefahren der Zeit verstecken, presste sich Braquewehr in die
enge Lücke zwischen zwei bewaldeten Hügeln, deren Gipfel felsig aus den
Baumwipfeln hervorstachen. Einige Rebhänge und noch mehr jener dunklen Wälder,
die Bernina

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