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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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sich aufzunehmen, dass sie
erst gar nicht bemerkte, wie Nils Norby sich im Sattel aufrichtete. Er kniff
die Augen zusammen, und plötzlich hielt er die Armbrust in der Hand.
    »Was ist los?«
    Genau in dem Moment, als
Bernina fragte, wusste sie die Antwort.
    Vier Reiter, die an der
langen Menschenschlange vorüberpreschten. Ihre roten Umhänge bauschten hinter
ihnen auf. Die Läufe von schussbereiten Musketen wiesen nach vorn. Sie hatten
sie gesehen.
    »Deine Freunde«, meinte
Norby, seine Stimme aufreizend ruhig.
    »Was nun?«, Bernina
blickte zum Stadttor.
    »Du musst wirklich
verdammt wichtig für diese Kerle sein. Sonst würden sie dich nicht bis hierher
verfolgen. Wichtig für sie – oder für Blum.«
    »Sag mir lieber, wohin
wir jetzt sollen. Zur Stadt?«
    »Nein, weg von der
Stadt.« Norby löste schon das Seil des Lasttiers.
    »Warum?«
    »Ich würde mich nicht
auf die Soldaten vor der Stadt verlassen.«
    Die vier Männer ritten
noch schneller. Genau auf sie zu. Die Menschen, die sich vor den Hufen ihrer
Pferde in Sicherheit brachten, beachteten sie nicht.
    »Vergiss nicht«, rief
Norby, »du bist aus einem Gefängnis geflüchtet! Und das sieht man deinem
zerfetzten Kleid an. Für die Soldaten in Ippenheim wirst du bloß eine
Verbrecherin auf der Flucht sein.«
    Er galoppierte los und
ließ dabei das lahmende Pferd zurück.
    Bernina schlug die Hacken
in die Seiten des Hengstes, der so rasch reagierte wie in Teichdorf. Sie hatte
den Schweden beinahe eingeholt, als der erste Schuss fiel. Die Kugel traf mit
einem Zischen in das Gepäck, das Norby hinter seinem Sattel verschnürt hatte.
    Unbeeindruckt ritt er
weiter, geradewegs über ein Feld hinweg, Bernina neben ihm, die sich ganz tief
über die Mähne des Hengstes duckte.
    Kein weiterer Schuss.
Die Männer versuchten näher heranzukommen. Die Hufe ihrer Pferde waren deutlich
zu hören. Je weiter Ippenheim hinter ihnen lag, desto zerklüfteter wurde das
Gelände. Keine Äcker und Felder mehr, die Erde hob sich, senkte sich, schon die
ersten Bäume, die Fransen eines Waldstücks.
    Nils Norby riss sein
Pferd herum, legte mit der Armbrust an, der Pfeil surrte, und aus den Augenwinkeln
verfolgte Bernina, wie einer der Verfolger aus dem Sattel gerissen wurde. Und
weiter hinein in den Wald.
    »Diesmal kriegen sie
uns!«, rief Bernina, ihre Stimme schriller, als sie sie je gehört hatte.
    Das Krachen des nächsten
Schusses. Bernina sah Blut aufspritzen, Norbys Pferd überschlug sich, und er
wurde in weitem Bogen aus dem Sattel geschleudert. Sie zügelte den Hengst.
    »Reite weiter!«, brüllte
Norby, vor dem bereits einer der drei übriggebliebenen Männer auftauchte. Der
Schwede griff nach dem Degen, aber noch bevor die Klinge vollends die Scheide
verlassen hatte, traf ihn die Kugel.
    Voller Entsetzen
verfolgte Bernina von ihrem aufbäumenden Pferd, wie Nils Norby erstarrte. Dann
knickte er ein, sank auf die Knie. Der Reiter hatte die Muskete weggeworfen und
seinerseits einen Degen gezogen.
    Das Letzte, was Bernina
von Norby sah, war etwas Grauenhaftes: die Klinge, die seine Brust erfasste und
diesen großen Mann unter einer Fontäne seines Blutes zusammensacken ließ.
    Im gleichen Moment wurde
sie von ihrem Pferd davongetragen, alle drei Verfolger schon wieder hinter ihr,
noch näher. Die nächste Kugel. Ihr Kleid wurde getroffen, nicht jedoch ihr
Körper. Sie galoppierte auf den immer dichter werdenden Wald zu, der sich wie
eine Mauer vor ihr sperrte.
    Du wirst sterben!,
pochte es irgendwo in ihrem Kopf. Der letzte Schuss hatte an der Absicht der
Reiter endgültig keinen Zweifel gelassen. Kein Ausweg, keine Chance, die Reiter
holten noch ein wenig auf. Mit knappen Zurufen in ihrer Sprache verständigten sie
sich. Einer lachte auf. Selbstsicher, gelassen. Auch er war sicher, dass es
gleich vorüber sein würde.
    Dort – eine Lücke im
Dunkel der Bäume.
    Bernina preschte darauf
zu, rechts und links der Wald, und auf einmal klaffte die Erde vor ihr auf. Sie
sah den felsigen Rand des Abgrundes. Im nächsten Augenblick befand sie sich in
der Luft. Es blieb nicht einmal die Zeit, ihren Schock, ihre Todesangst
hinauszuschreien. Der Sattel löste sich unter ihr, der Hengst war plötzlich
einfach nicht mehr da.
    Nichts war mehr da,
nichts außer dieser finsteren lautlosen Leere, in die sie kopfüber stürzte.

Kapitel
3 Eine kleine Welt aus Gold und Silber
     
    Das Krächzen von Krähen, ganz nahe. Als würden sie genau über
ihrem Kopf fliegen. Die Schreie der Vögel,

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