Die Sehnsucht der Krähentochter
Bäumen, im fahlen
Dämmerlicht glitzerte.
»Wohin gehen Sie?«,
fragte Norby.
»Nirgendwohin.«
»Aber bleiben Sie nicht
zu lange weg«, warnte er und begann, das Feuer mit weiteren Ästen und Zweigen
zu füttern.
Bernina überquerte die
Lichtung, umrundete den Teich und schlüpfte dann zwischen ein paar dicht
wuchernde Büsche. Der Feuerschein war zu sehen, nichts mehr jedoch von dem
großen blonden Mann. Sie streifte ihre Kleidung ab und erschauerte, als sich
die Luft kühl auf ihre ungeschützte Haut legte. Es versprach, ein überraschend
unfreundlicher Sommer zu werden. Aber daran dachte sie jetzt nicht.
Ihre Füße befanden sich
schon im Teich, sie ging in die Knie und erschauerte von Neuem.
So kühl das Wasser auch
war, es war schön für sie, sich damit abzureiben, den Schmutz der vergangenen
grausamen Tage und Nächte von sich zu spülen, mit nassen Händen durch ihr Haar
zu fahren, bis es sich so weich anfühlte, wie sie es kannte. Sie tauchte kurz
unter, drang noch ein Stück weiter in den Teich vor, sodass sich bloß noch ihr
Kopf und ihre Schultern im Freien befanden. Mit einer langsamen Bewegung wandte
sie sich wieder dem Ufer zu – und erschrak fürchterlich.
Wie versteinert blieb
sie stehen. Ihre Zehen wühlten sich in den weichen Grund, ihre Augen funkelten.
»Ich dachte, Sie sind
beim Feuer!«, fuhr sie ihn an. Sie merkte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss,
spürte das Glühen in ihren Wangen.
»Falsch gedacht. Ich
wollte noch mehr Holz sammeln.«
»Wie lange sind Sie
schon hier am Teich?«
Aufreizend lässig, wie
er dastand, die Schulter an einen Baumstamm gelehnt, ein Lächeln auf den
Lippen. »Keine Sorge, nicht allzu lange.«
Ruckartig drehte Bernina
sich herum, sodass sie nur Hinterkopf und Schulterblätter präsentierte.
»Mir wird kalt«, zischte
sie wütend angesichts dieser Unverschämtheit.
»Das glaube ich gern«,
meinte er mit heiterer Stimme.
»Dann machen Sie schon,
dass Sie verschwinden!«
»Warum haben Sie sich
umgedreht? Also, falls Sie jemanden suchen, der Ihnen den Rücken schrubbt –
Nils Norby stets zu Diensten.«
»Hauen Sie ab!«
Er lachte laut, fast wie
ein übermütiger Junge.
Ein Moment verstrich,
noch einer. Im Wald knackte es.
»Wissen Sie was«, sagte
Bernina auf einmal ganz ruhig und überraschte sich selbst damit. »Wenn Ihnen so
viel daran liegt – mir soll’s egal sein.« Sie wandte sich erneut um und begann,
aus dem Teich zu gehen, zielstrebig, aufrecht, den Blick geradeaus. Für einen Wimpernschlag
perlte das Wasser auf ihrer Haut wie unendlich viele winzige Kristalle. Als sie
aus den Augenwinkeln zu der Stelle sah, an der Norby eben noch gestanden hatte,
war er nicht mehr da.
*
Wolken schwebten wie zerrissene dunkelgraue Schleier unter diesem
endlosen Nachthimmel. Nur hier und da, nur ganz kurz das Funkeln vereinzelter
Sterne. Ein Wind ließ den Wald leise rauschen. Das Feuer war beinahe erloschen,
und die Luft rund um die Lagerstelle trug den Geruch von Asche in sich.
Bernina wurde hin und
her geschüttelt von Schlaf und Wachsein. Sie betrachtete den Mann, der nur ein
paar Schritte von ihr entfernt auf der Seite lag, und hörte sein gleichmäßiges
Atmen. Dann wieder war ihr, als befände sie sich zu Hause, als würde sie sich
behaglich in ihrem Bett ausstrecken. Ihre Hand suchte die vertraute Berührung
mit Anselmo, doch sie stieß nur in eine kalte Leere.
Auf einmal schien Leben
in die Bäume zu kommen. Es war, als würden sie sich sanft und rhythmisch von
einer Seite zur anderen wiegen. Überall lösten sich Schatten aus der Nacht, und
einer dieser Schatten bewegte sich auf das nur noch schwach glimmende Feuer zu,
daran vorbei, dann genau auf Bernina zu, die sofort den Drang verspürte, Nils
Norby mit einem Ruf zu wecken. Doch ihre Kehle war zu keinem Laut fähig.
Der Schatten, schwarz
und zugleich durchsichtig, kam immer näher. Jetzt sah Bernina die
ausgestreckten Arme, einen kleinen runden Kopf, aber das Gesicht war von
Tüchern verborgen. Eine Stimme erklang, eine Stimme, die etwas unmenschlich Krächzendes
hatte und die Bernina dennoch vertraut vorkam: »Meide die Menschen, meide die
Städte.«
Bernina starrte stumm
auf den Schatten.
»Meide die Menschen,
meide die Städte.«
Plötzlich spürte sie
eine Berührung, die ihr fremd war, die sie aufschrecken ließ. Der Schatten war
verschwunden, und eine andere Stimme erfüllte mit hartem Akzent die Nacht.
»Alles in Ordnung, nur
ein Traum«, flüsterte Nils Norby
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